Die Auserwählten
Öffnungszeiten.
Vor der Tür standen überforderte Vorstadteltern und versuchten, ihre magersüchtige Tochter zu beruhigen, die immer wieder schreiend betonte, keine Lust mehr auf dieses Leben zu haben. Die Mutter weinte. Der Vater sah aus, als hätte er seiner Tochter am liebsten eine geknallt. Hinter der Tür lag ein Mann und schlief. Oder war er … Niels schlug sich den Gedanken aus dem Kopf. Warum sollte er tot sein? Niels zog eine Nummer und setzte sich zu den anderen Patienten in den Warteraum, um nicht aufzufallen. Trotzdem sahen ihn einige verwundert an. Niels starrte auf seine nackten, von der Kälte geröteten Füße. Spüren konnte er sie nicht. Die Frau an der Anmeldung schickte die meisten nach einem kurzen Gespräch wieder nach Hause. Das war ihr Job. Sie war die erste Hürde des Systems. Ein menschliches Bollwerk, das sich von Tränen nicht erweichen ließ. Niels wusste, dass es einen Grund dafür gab, dass sie dort saß. Kein anderer Ort zog einsame Seelen derart an, wie die tagaus tagein geöffnete Ambulanz der Psychiatrie. »Vergesst nicht, wir Dänen sind die glücklichsten Menschen der Welt«, hatte ein Witzbold an die Wand geschrieben. Das magersüchtige Mädchen gelangte durch das Nadelöhr und verschwand weiter im Innern des Systems. Die Frau verließ die Anmeldung und begleitete die Eltern und das Mädchen ein Stück. Auf diesen Augenblick hatte Niels gewartet. Er schlüpfte am Tresen vorbei auf einen langen Flur und sah sich um. Helle Wände, beklebt mit Herzen, Weihnachtsmännern, Sternen und Girlanden. Hinter ihm öffnete sich eine Tür.
»Wollen Sie spielen?« Eine hübsche Frau um die vierzig mit einem manisch flackernden Blick stand hinter ihm und kicherte wie ein Schulmädchen. Sie hatte sich Lippenstift über die untere Hälfte des Gesichts geschmiert und schien nicht gerade nüchtern zu sein. Sie trat dicht an Niels heran. »Komm schon, Carsten, die Kinder schlafen, es ist so lange her.«
»Carsten kommt gleich.« Niels hastete weiter.
Das Archiv war sicher nicht in der geschlossenen Abteilung, dachte er. Bestimmt war es im Keller wie alle Archive.
***
Gemauerte Wände; ein alter, moderiger Keller, der die Feuchtigkeit vieler Jahre in sich aufgesogen hatte. Die Flure waren bedeutend kürzer als diejenigen, über die er vor wenigen Minuten erst gelaufen war. Niels spähte in ein paar leere Büros und in einen Raum voller Klappstühle und Gartentische. Kein Archiv. Er lief weiter. Es musste hier doch irgendwo sein, aber er stieß nur auf weitere Büros, bis er am Ende eines Flures plötzlich vor einer Tür stand. Er wusste nicht, was sich dahinter befand, aber davor standen ein paar Kartons mit Patientenakten. Niels suchte etwas, womit er die Tür aufbrechen konnte. Eine leere gelbe Gasflasche. Doch bevor er begann, mit der Metallflasche auf die schwere Tür einzuhämmern, legte er die Hand auf die Klinke. Man durfte ja auch mal Glück haben.
Verglichen mit dem Archiv des Rigshospitals war dies hier nur ein kleines Lager. Die Reihenfolge kannte er ja bereits: Erst die Bestandsliste mit der Karteikartennummer; dann die Karteikarte mit der Aktennummer; dann die Krankenakte. Dieses Mal hatte er das Regal mit den Akten aus dem Jahre 1943 schon nach wenigen Minuten gefunden. Danach war es ein Leichtes, ›Patient Nummer 40,12 – Thorkild Worning‹ zu finden. Die psychiatrische Patientenakte war deutlich umfangreicher als jene, die Thorkild Worning in der Dermatologie hatte.
23. Dezember 1943
Patient von Zentrale überstellt. Klagt bei der Einweisung über Rückenschmerzen.
Befund: Patient hat ein Hautleiden auf dem Rücken, das gegenwärtig nicht genau diagnostiziert werden kann, vermutet wird eine bakterielle Entzündung. Die Dermatologie in Finsen ist informiert worden und wird hinzugezogen. Patient leidet unter Stimmungsschwankungen, innerhalb weniger Sekunden wechselt sein Verhalten von Schweigsamkeit zu aggressivem, auffällig lautem Gehabe. Die Gabe von Sedativa bleibt ohne Wirkung. Patient missbilligt die Untersuchung ebenso demonstrativ wie die Fragen, die man ihm stellt. Anzeichen von Schizophrenie; in kurzen Momenten ist er klar und versteht, warum er eingewiesen wurde.
Am ersten Tag liegt der Patient apathisch im Bett. Will mit niemandem reden. Fragt nach seiner Frau und verlangt ein Funkgerät, um mit ›seinen Kontakten‹ zu reden. Er verweigert die Nahrungsaufnahme. Als er am Nachmittag gefragt wird, ob er aufstehen will, kommt es bei dem Patienten zu einem
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