Die Auserwählten
mit gleichgültigem Gerede zu retten. Sie wusste, dass er Bescheid wusste.
»Wohnen Sie das ganze Jahr hier?«
»Ja.«
»Ist das nicht einsam?«
»Sie sind doch wohl nicht gekommen, um mit mir über so etwas zu reden?«
Mit der plötzlichen Kälte in ihrer Stimme wollte sie vielleicht ihre Trauer überspielen, mit der sie gern allein gewesen wäre. Die Aufarbeitung von Trauer bildete die Basis in der Arbeit eines jeden Vermittlers; diesem Thema hatten die Psychologen in den Seminaren die meiste Zeit gewidmet. Kamen die Menschen mit ihrer Trauer nicht zurecht, konnte das schlimme Folgen haben. Dann kamen bisweilen Waffen, Geiseln und Selbstmord ins Spiel. Mehr als einmal hatte Niels den Eltern die schreckliche Nachricht vom Tod ihres Kindes überbringen müssen. Er kannte die verschiedenen Phasen, die ein Trauernder durchleben musste.
Wie lange war es her, dass ihr Sohn Selbstmord begangen hatte? Sie musste jetzt in der Phase der Neuorientierung sein, in der die Trauernden den Blick wieder auf die Welt und – wenn auch anfänglich nur zaghaft – auch wieder in die Zukunft zu richten wagten. In dieser Phase ging es in erster Linie darum, Lebewohl zu sagen. Abschied zu nehmen. Weshalb diese Phase auch die schwerste von allen war. Eine lange innere Reise, die längst nicht alle zu Ende brachten. Viele verloren den Kampf. Dabei waren die Folgen einer solchen Niederlage erschreckend, denn häufig war ein Leben mit Depressionen die Folge. In schweren Fällen sogar die Einweisung in die Psychiatrie, und einige wenige endeten gar auf dem Geländer einer Brücke oder dem Dach eines Hauses – dann wurde Niels gerufen.
»Entschuldigen Sie.« Niels machte Anstalten zu gehen. »Wie gesagt, das ist keine große Sache, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
»Ich mache mir keine Sorgen. Meinetwegen können sie ihn ruhig erschießen.« Sie wich seinem Blick nicht aus. Als wollte sie dadurch unterstreichen, dass sie jedes Wort ernst meinte. Sie stand etwas zu dicht vor ihm. Aber das bemerkte nur Niels, denn ihre ganze Körpersprache wirkte etwas seltsam und unangepasst. Wie schon unten auf dem Steg. Aber vielleicht war das bei Wissenschaftlern ja so: Vielleicht beanspruchte die Intelligenz ganz einfach den Platz der allgemeinen, sozialen Fähigkeiten?
Er trat einen Schritt zurück, obgleich ihr Atem angenehm war. Irgendwo klingelte ein Telefon. Er brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass dieses Klingeln aus seiner eigenen Tasche kam: Es war eine ausländische Nummer.
»Würden Sie mich kurz entschuldigen? Hallo?« Niels wartete. Die Verbindung war schlecht, es rauschte. »Hallo? Mit wem spreche ich?«
Endlich drang eine Stimme zu ihm durch: Tommaso di Barbara. Der Mann, den Niels am Vormittag angerufen hatte. Er sprach Italienisch, sehr langsam. Als würde das helfen.
»Do you speak English?«
Tommaso entschuldigte sich, so viel verstand Niels noch. »Scusi«, sagte er und schlug Französisch vor.
»No, wait.« Niels sah Hannah an. »Sprechen Sie Italienisch? Oder Französisch?«
Sie nickte zögernd, bereute es allem Anschein nach aber gleich. »Französisch. Ein bisschen.«
»Just a minute. You can talk to my assistent.«
Niels reichte ihr das Handy. »Die Polizei in Venedig. Hören Sie einfach, was er zu sagen hat.«
»Assistent?« Sie nahm ihm das Handy ab. »Wovon reden Sie?«
»Sie müssen bloß zuhören, was er zu sagen hat, sonst nichts.«
»Nein.« Sie wirkte komplett abwesend, nahm aber trotzdem den Hörer. »Oui?«
Niels musterte sie. Er konnte nicht beurteilen, wie groß ihr Französischwortschatz war, aber sie sprach schnell und fließend.
»Er fragt nach den Zahlenmorden.« Sie legte eine Hand auf das Handy und sah Niels an.
»Zahlenmorde? Die haben Zahlen auf den Rücken? Ist er sich da sicher? Bitten Sie ihn um weitere Erläuterungen.«
»Wie lautete Ihr Name? Bentzon? Er fragt nach Ihrem Namen.«
»Bentzon, ja.« Niels nickte. »Niels Bentzon. Fragen Sie, ob es Verdächtige gibt, oder besonders …«
Sie presste sich eine Hand aufs Ohr und ging ein paar Schritte weg.
Niels’ Blick klebte an ihr.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Katze langsam näher kam. Er ging in die Hocke und ließ sie an seinen Fingern schnuppern. Sein Blick fiel auf das Bild von Hannah und dem Jungen. Und von dort auf ein kleines Regal, auf dem ein aufgeschlagenes Fotoalbum lag. Sechs Bilder, die die ganze Geschichte erzählten. Hannah – vielleicht vor fünfzehn Jahren – mit irgendeinem
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