Die Auserwählten
seinen Augen nicht. Er wusste nicht genau, was er erwartet hatte, aber keinesfalls einen Stapel von mehreren Hundert Seiten Papier.
»Worum geht es denn da?« Anni versuchte, ihre Frage ganz beiläufig zu stellen.
»Ach, das ist auch nur ein Fall.«
»Ganz so harmlos wird der ja wohl nicht sein«, erwiderte sie und unterdrückte ein Lächeln. »Hat das was mit der Klimakonferenz zu tun?«
»Ja.« Niels sah sie voller Ernst an und dachte, dass diese Konferenz nun doch für etwas gut war, egal zu welchem Ergebnis die Top-Politiker kamen, die Welt vor dem Untergang zu retten. Ohne diese Konferenz hätte Niels seine Sekretärin niemals so schnell zum Schweigen gebracht.
»Haben wir einen Karton?« Niels sah sich um.
Anni reichte ihm den Karton mit dem Druckerpapier. Niels nahm die Papierpackungen heraus und legte das Fax hinein, wobei sein Blick auf ein paar Bilder fiel. Rechtsmedizinische Fotos von Obduktionen. Ein seltsames Mal auf einem Rücken. Eine Liste der Ermordeten. China und Indien.
»Was für ein Kleid. Kommen die morgen?«
Anni betrachtete ein kleines Display: Barack und Michelle Obama traten irgendwo auf der Welt aus der Air Force One.
»Kein schlechter Hintern. Ist das eigentlich sexy?«
Sie sah Niels fragend an.
»Vielleicht, wenn man auf so etwas steht.«
Michelle Obama stand oben auf der Treppe und winkte. Wem sie wohl zuwinkte? Dem Heer von Sicherheitskräften? Barack Obama trat auf das Rollfeld und reichte einem kahlköpfigen Mann die Hand. Vermutlich der amerikanische Botschafter des Landes. Niels konnte Obamas Blick nicht erkennen, sein Lächeln wirkte aber irgendwie traurig. Diesen Eindruck hatte er auch schon gehabt, als er Obama zum ersten Mal bei der Fernsehdiskussion mit Hillary Clinton gesehen hatte. Ein letzter Rest von Wehmut? Ein Zögern? Zweifelte er an seinem Projekt? Auch wenn er sich selbst sicher war, den Willen und die Kraft zu haben, um die Welt zu verbessern, konnte er nicht mit der gleichen Sicherheit davon ausgehen, dass die Welt auch dafür bereit war.
***
In Sommersteds Büro brannte Licht, bemerkte Niels verwundert, als er aus dem Computerraum trat. Er stellte den Karton mit dem Fax ab und schob ihn mit dem Fuß unter den Tisch, so dass niemand ihn sehen konnte. Indien und China . Die beiden letzten Morde auf der Liste aus Venedig. War nicht auch dieser Terrorist in Indien gewesen?
»Pass auf«, kam es warnend von Anni. »Mit dem ist heute nicht zu spaßen.«
»Ist das nicht immer so?«
Niels klopfte an und trat ein. Sommersted trug noch seinen Mantel. Er schien nach etwas zu suchen.
»Ja?« Er blickte nicht einmal auf. »Ich bin auf dem Sprung und muss sofort wieder weg.«
Sein Tonfall hatte etwas Drohendes. So klang jemand, der massiv unter Druck stand, länger schon nicht mehr richtig geschlafen hatte und den Kopf voller Schreckensszenarien über potenzielle Sicherheitslecks während der Klimakonferenz hatte.
»Was diesen Fall mit dem gesuchten Jemeniten angeht …«
»Stopp!« Sommersted hielt gestresst seine Hand hoch.
Niels redete trotzdem weiter:
»Ich konnte es gestern nicht vermeiden, einen Blick in den Bericht zu werfen. Seine letzten Aufenthaltsorte…«
»Was? Nein.«
Sommersted war nicht bei der Sache. Das war deutlich zu erkennen. Er befand sich mit dem Kopf bereits im Bella Center bei den Staatsoberhäuptern, die er beschützen sollte.
»Es gibt da einen Zusammenhang mit der Sache von Interpol.«
»Bentzon.« Sommersted seufzte. Ein Raubtier, das seinem Opfer eine letzte Chance geben wollte. »Die Hadi-Sache ist streng vertraulich. Die geht Sie nichts an. Wir dürfen jetzt um keinen Preis auf der Welt panisch werden. Stellen Sie sich das mal vor: Die Kombination aus top-getunten Terroristen und den Staatsoberhäuptern der Welt hier auf dieser Scheißinsel?«
»Ich weiß es auch nicht mit Sicherheit«, sagte Niels. »Das gestehe ich gern ein. Aber ich habe einen begründeten Verdacht!«
»Nein!« Sommersted legte jetzt alle Rücksicht ab und erhob seine Stimme. »Vergessen Sie das, Bentzon. Überlassen Sie das den anderen. Sind Sie sich eigentlich im Klaren darüber, wie viele Regierungschefs in ein paar Stunden im Bella Center sitzen und von mir erwarten, dass ich auf sie aufpasse? Brown, Sarkozy! Die ganze Bande. Sogar ein Verrückter wie Mugabe hat ein Anrecht darauf, keine Kugel in den Kopf zu bekommen, während er hier in Wonderful Copenhagen ist! Extremisten, Terroristen und psychisch kranke Idioten. Alle warten nur darauf, dass
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