Die Auserwählten
Anforderungen an Pass und Identifikationspapiere – schienen die Terroristen noch immer einen Schritt voraus zu sein. Oder waren sie so zahlreich, dass immer jemand durch das Netz schlüpfte, auch wenn man einige festnehmen konnte?
Niels bemerkte, dass er Selbstgespräche führte.
»Was hast du in Indien gemacht?«, murmelte er.
Keine Antwort. Hadi starrte ihn an. Er kannte diesen Blick. So sehen Menschen aus, die ohne Zögern den Abzug drücken.
»Was willst du in Dänemark?«
27.
27.
Christianshavn, Kopenhagen
Die Ampel an der Amagerbrogade funktionierte nicht.
Niels bemerkte das aber erst, als er schon eine Ewigkeit bei Rot stand und der Fahrer hinter ihm aggressiv hupte. Schließlich fuhr der Mann um Niels’ Wagen herum, zeigte ihm den Finger und verschwand.
Niels rief an. Wartete. Hannah klang verschlafen.
»Niels Bentzon. Darf ich vorbeikommen?«
»Jetzt?«
»Ich habe ein Fax mit allen Hintergrundinformationen über den Fall. Aber ich muss Sie warnen. Es ist recht umfassend.«
»Wollten Sie nicht verreisen?«
»Es ist wirklich ziemlich umfassend. Ich habe alle Details, genauso, wie Sie es haben wollen.«
Pause. Niels wollte weiterreden, aber sie kam ihm zuvor: »Kann ich vorher noch ins Bad?«
»Ich bin in einer Stunde da.«
Er beendete das Gespräch und hatte sie plötzlich vor Augen, im Bad. Hatte sie es deshalb gesagt? Er kam auf den Christmas Møllers Plads, auf dem ein paar Hundert Klimademonstranten in der Kälte zu einer unangemeldeten Kundgebung aufmarschiert waren. Sie liefen dicht an den Autos vorbei. »Letzte Chance – Rettet den Planeten!«, stand auf einem großen Banner. »Jetzt oder nie!«, hieß es auf einem anderen. Weil der Verkehr stockte, öffnete er den Karton mit dem Fax, der auf dem Beifahrersitz lag. Dicht beschriebene Seiten mit Informationen über die Opfer, die Tatorte und -zeitpunkte. Bilder von den Opfern. Fotos von den seltsamen Tätowierungen auf ihren Rücken. Niels wusste nicht viel über Tätowierungen, aber etwas verwirrte ihn. Warum machte ein Mörder derart komplizierte Tattoos auf die Rücken seiner Opfer? Tommaso hatte gesagt, es seien Zahlen. Niels wusste nicht, wie er zu dieser Erkenntnis gelangt war. Für ihn sah es eher wie ein Muster aus. Eine abstrakte Zeichnung vielleicht?
Endlich klaffte eine Lücke in der wachsenden Menschenmenge. Niels fuhr über den Christianshavns Torv in Richtung Zentrum. Die sonderbaren Tätowierungen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Wie eine fremde Okkupationsmacht hatten sie seinen Schädel eingenommen und weigerten sich, wieder zu gehen. Plötzlich – vollkommen ansatzlos – machte er einen U-Turn, fuhr zurück und bog nach links in die Prinsessegade ein.
***
Christiania, Kopenhagen
Tattoo Art gab es immer noch. Niels war nie im Inneren des Studios gewesen, aber er kannte diese Ecke von Christiania gut. Wie die meisten anderen Kopenhagener Polizisten war er hier Streife gelaufen und hatte auf der Pusher Street Leute festgenommen. Er blieb stehen und sah sich um. Ein paar betrunkene Grönländer taumelten vor Nemoland auf dem Platz herum. Herrenlose Hunde folgten Niels neugierig mit den Blicken.
Niels hatte ein ambivalentes Verhältnis zu Christiania. Prinzipiell stand er dem Ganzen positiv gegenüber. Die Vorstellung, dass friedliebende Hippies vor bald vierzig Jahren ein stillgelegtes Militärgelände besetzt und daraus ein Sozialexperiment gemacht hatten, zog ihn an. Eine Freistatt inmitten der Großstadt. Ein Dorf im Zentrum von Kopenhagen. Eine andere Lebensart. Außerdem hatte er hier in Christiania als junger Beamter einige seiner besten Erlebnisse gehabt. Hier war er auch schon mit größter Freundlichkeit empfangen worden. An welchem anderen Ort der Welt war es möglich, nachts um vier zu Weihnachtsbier und Milchreis eingeladen zu werden – und das mitten im Juli?
In den letzten zehn Jahren aber war die Stimmung gekippt. Rocker-und Einwandererbanden waren mit Macht auf den Drogenmarkt gedrängt. Die Unschuld der Hippiezeit war von einer knallharten Drogenkriminalität abgelöst worden, deren Hintermänner rücksichtslose Gangster waren, die sich eine goldene Nase verdienen wollten. Gewalt und Drohungen waren an der Tagesordnung. Gegipfelt hatte das Ganze in einem Vorfall im Mai 2006, als ein neunzehnjähriger Mann von Dealern angegriffen und brutal erschlagen worden war. Niels war nicht selbst in diesen Fall involviert gewesen, wohl aber seine Kollegen, und die waren zutiefst erschüttert gewesen. Eine
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