Die Auserwählten
wechselte sie ins Dänische: »Und wenn du es bist, Mutter, hinterlasse mir einfach eine nette Nachricht.«
»Kathrine. Ich bin es.« Niels atmete tief durch. »Du siehst ja, dass ich es bin. Und ich verstehe auch, dass du keine Lust hast, mit mir zu reden. Ich will nur sagen, dass der Fall, an dem ich gerade arbeite … irgendwie … es klingt bestimmt bescheuert, aber ich habe das Gefühl, dass ich dabei bin, eine Sache von größter Wichtigkeit zu lösen.«
Niels verstummte. Er hatte Recht: Es klang bescheuert. Er wusste aber nicht, was er sonst sagen sollte.
Mordfall: Vladimir Zjirkov
»Jetzt müssen wir nach Russland.« Niels saß wieder auf dem Boden. »Genauer gesagt, nach Moskau. Vladimir Zjirkov, achtundvierzig Jahre alt.«
»Moskau, gern.« Hannah steckte eine Nadel in die Karte.
»Journalist und Systemkritiker.«
»Ich dachte, man würde das russische System nicht mehr kritisieren.«
»Zjirkov verstarb am 20. November dieses Jahres. Laut eines Berichts der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial saß er in dem berüchtigten Butyrka-Gefängnis in Moskau ein.«
»Weswegen?«
Niels zögerte und blätterte. »Das kommt noch. Er wurde von dem Mithäftling Igor Dasajev gefunden, der anschließend zu Protokoll gegeben hat, dass Zjirkov am Nachmittag oder frühen Abend begonnen hatte, über Schmerzen zu klagen. Dasajev hatte versucht, Hilfe zu holen … äh, hier steht alles Mögliche: ›Es brennt ein Feuer in mir‹, soll er angeblich gerufen haben, ›dieses Feuer.‹ Kurz darauf wurde er für tot erklärt. Keine Obduktion. No post-mortem. Schluss, Ende, Aus.«
Niels erhob sich aus seiner unbequemen Stellung und trank einen Schluck kalten Kaffee.
»Was ist das?« Hannah zeigte auf eine Seite, die so klein kopiert worden war, dass die Buchstaben beinahe ineinander übergingen. »Ist das auf Englisch?«
Niels nickte. »So gut wie unleserlich. Ein Zeitungsartikel aus der Moscow Times . Vom 23. Oktober 2003: ›The 23th of October 2002 is remembered for the attack …‹« Niels stockte.
»Was ist?«
»Ich denke, ich übersetze das lieber.«
»Ich verstehe wirklich gut Englisch«, protestierte Hanna, aber Niels stolperte sich stattdessen durch eine spontane Übersetzung: »Am 23. Oktober griffen vierzig tschetschenische Terroristen unter der Leitung von Mowsar Barajew das Dubrowka-Theater unweit des Roten Platzes an. Zirka neunhundert nichtsahnende Theatergäste verfolgten den Anfang des zweiten Akts, als sie sich plötzlich inmitten eines Terroranschlags wiederfanden, der ganz Russland in seinen Grundfesten erschütterte. Unter den schwer bewaffneten Terroristen waren viele Frauen, von denen sich die meisten Sprengstoff auf den Körper gebunden hatten. Die Terroristen forderten, dass alle russischen Streitkräfte sofort aus Tschetschenien abgezogen werden sollten. Barajew unterstrich seine Worte, indem er proklamierte: ›Ich schwöre bei Allah, wir sind versessener darauf, zu sterben, als ihr zu leben.‹ Dass die Terroristen bereit waren, blutigen Ernst aus ihren Drohungen zu machen, zeigte schon die enorme Menge Sprengstoff und Waffen, die sie mitgebracht hatten. Spätere Untersuchungen ergaben, dass sich mindestens 110 kg des hochexplosiven TNT im Theater befunden hatten. Schon 20 kg TNT hätten vermutlich ausgereicht, sämtliche Gäste des Theaters zu ermorden. Die russischen Behörden waren in Panik. Putin weigerte sich, klein beizugeben, doch die Forderungen der Angehörigen, dass endlich etwas geschehen musste, wurden immer lauter. Eine junge Frau, die sechsundzwanzigjährige Olga Romanova, hatte es ins Theater geschafft, um die Geiselnehmer zu überzeugen, die Kinder freizugeben. Die Terroristen beantworteten ihre Forderung, indem sie sie auf der Stelle erschossen. Im Lauf der nächsten Tage wurden einige Geiseln freigelassen. Prominente und Organisationen versuchten, Verhandlungen mit den Geiselnehmern aufzunehmen: unter anderem das Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen und die bekannte Journalistin Anna Politovskaja. Die Situation spitzte sich gegen Ende so zu, dass russische Speznaz-Spezialeinheiten am frühen Morgen des 26. Oktober 2002 große Mengen eines fentanylbasierten Gases in das Theater leiteten und gleichzeitig die Erstürmung einleiteten. Der Kampf war nur von kurzer Dauer. Fast alle im Theater waren von dem Gas sofort betäubt. Die Polizisten gingen bei den betäubten Terroristen kein Risiko ein und schossen ihnen noch an Ort und Stelle – Männern wie Frauen – in den
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