Die Ausgelieferten
Einflusses.
Nach und nach, bei der Lektüre der Untersuchungsberichte, stellte der Untersucher fest, dass sich etwas geändert hatte: nicht in den Listen, sondern in ihm selbst. Die Empörung der ersten Tage, die zumindest überwiegend echt und nicht gespielt gewesen sein musste, wich etwas anderem: einer Aufmerksamkeit oder einer gewissen Zufriedenheit. Bei jedem einzelnen Fall wandte er sich sofort den Schlusszeilen zu und spürte ein schnell vorübergehendes Glück, wenn ein Fall mit einer Katastrophe geendet hatte: durch Füsilierung oder durch eine andere Hinrichtungsart. Keine Hinrichtung: den Fall überschlagen und zum nächsten übergehen. Hinrichtung: ein ausgezeichneter Fall, zitierfähig, schön empörend. Da war zum Beispiel der Fall des vierzigjährigen norwegischen Mechanikers, der in Nordnorwegen gegen die Deutschen gekämpft hatte und dann nach Schweden geflohen war. Im Dezember 1940 hatte man ihn ausgeliefert, daraufhin war er wieder nach Schweden geflüchtet, wieder von der schwedischen Polizei festgenommen und nochmals eingesperrt worden. Die Sozialbehörde beschloss, ihn wiederum auszuliefern. »Am 14. März 1941 wurde er bei Kornsjö den deutschen Grenzpolizisten übergeben.« Die Deutschen brachten ihn im September 1941 in ein KZ, wo er umkam: ein ausgezeichneter Fall. Weniger zufriedenstellend war der folgende: eine Lehrerin, die in Nordnorwegen als Armeehelferin gedient hatte, floh nach der Niederlage nach Schweden, wo sie sich als politischer Flüchtling meldete. Später wurde ihr Verhältnis zur norwegischen Gesandtschaft in Stockholm recht gespannt. Die schwedischen Behörden zogen ihre Unterstützung ein und verwiesen sie sicherheitshalber noch des Landes. Die zuständige Stelle war der Ansicht, sie würde einer Verfolgung durch die Deutschen nicht ausgesetzt sein, und übergab sie am 25. Juli 1941 der deutschen Grenzpolizei.
Im Sommer 1945 wurde sie im KZ Ravensbrück gefunden. Sie befand sich in einem äußerst mitgenommenen Zustand, aber immerhin am Leben. Sie überlebte auch. Ein weniger befriedigender Fall: zu kompliziert.
Hinter jedem Beschluss ein Mensch. Die Verwaltung: kein Apparat, sondern eine Sammlung von Menschen, die zu entscheiden hatten. Die große Verwaltungsmaschinerie, die aus Gehirnen, politischen Anschauungen, Meinungen, Vorurteilen, Weitblick und Unterschriften besteht. Was waren dies für Menschen? Während des ganzen Krieges lieferte die schwedische Polizei den deutschen Behörden und der deutschen Polizei systematisch Angaben über Flüchtlinge. Angaben über Hintergründe und Vorgeschichten, über Aufenthaltsorte und politische Couleur, heimliches Material, das in mehreren Fällen den in Deutschland lebenden Angehörigen der Flüchtlinge auf katastrophale Weise schadete. Aus dem Untersuchungsbericht geht hervor, dass »man in der Leitung der Sicherheitspolizei der Ansicht war, die der deutschen Polizei geleistete Amtshilfe sei nicht nur aus polizeilichen, sondern auch aus politischen Gründen geboten« gewesen. Es ist auch offenkundig, dass die intime Zusammenarbeit der schwedischen Sicherheitsorgane mit der Gestapo das Schicksal vieler Flüchtlinge besiegelte. Dies war ein Teil des »früheren Geists«. Aber wer stand hinter den Beschlüssen? Welche Beamte? Welche Einzelpersonen?
Die Menschen in der Maschinerie zeigten sich fast nie: manchmal konnte man einen Schatten von ihnen erhaschen. Der Untersucher erfuhr nie, wer diese Menschen waren, wer hinter den Beschlüssen gestanden hatte, wer die Vorbereitungen getroffen, wer ein Aktenstück gestempelt und einen Dritten zum Handeln veranlasst hatte.
Nur in einem Fall wurde ein Mensch sichtbar, ein Mann namens Robert Paulsson. Er saß in einer wichtigen Position und hatte im Verlauf des Kriegs über Tausende von Flüchtlingsschicksalen zu entscheiden. Er wäre für immer anonym geblieben, wenn er nicht einen völlig überflüssigen Fehler gemacht hätte, der ihn von der Maschinerie trennte und ihn selbst sichtbar machte.
Er wurde 1886 in Hälsingborg geboren, war während des finnischen Bürgerkriegs Weißgardist; 1920 wurde er Angehöriger der Polizeibehörde, die die in Schweden lebenden Ausländer zu überwachen hatte, Karteien über sie anlegte und Gegenspionage betrieb. 1933 wurde Paulsson Chef dieser Behörde. 1938 machte man ihn zum Abteilungsleiter in der Sozialbehörde. Er hatte sich um diesen Posten nicht bemühen müssen, er bekam ihn so. Wie Dokumente beweisen, wurde er von verschiedenen Seiten
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