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Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)

Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)

Titel: Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joelle Charbonneau
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hier liegen lassen, wo die Vögel sie stückweise verzehren. Ihr wird das nichts mehr ausmachen, aber mir schon. Diese junge Frau hatte eine Familie. Freunde. Es gibt irgendwo Menschen, die sie lieben und die glauben, dass sie sicher in Tosu-Stadt untergebracht ist, wo sie allen zeigt, was sie in Mathematik und Naturwissenschaften draufhat. Diese Menschen werden vielleicht nie von ihrem Schicksal erfahren, aber ihre Liebe zu ihr und umgekehrt verlangen nach Respekt. So haben es mir meine Mutter und mein Vater beigebracht, und nach diesem Grundsatz leben wir in der Five-Lakes-Kolonie.
    Tomas findet schließlich einen Spalt im Boden, der breit genug für den schmalen Leichnam des Mädchens zu sein scheint. Gemeinsam verscheuchen wir die aasfressenden Krähen und tragen die Tote zu ihrer letzten Ruhestätte. Ich mühe mich mit ihrem Erkennungsarmband ab, bis ich endlich die richtige Stelle drücke. Der Verschluss öffnet sich mit einem Klicken, und das Band mit dem eingravierten Symbol – einem Dreieck um ein kleines Rad mit acht Speichen – fällt in meine geöffnete Hand. Dann lassen wir das Mädchen in den Spalt rutschen. Wir verlieren eine Stunde Tageslicht, während wir Steine über die Öffnung schieben, damit nicht Vögel und anderes Getier sich der sterblichen Überreste bemächtigen.
    Als Letztes markiere ich das Grab mit einem großen rötlichen Stein und wünschte, ich wüsste den Namen der Toten, um mich richtig von ihr verabschieden zu können. Stattdessen presse ich mir ihr Armband auf mein Herz. Im Stillen schwöre ich, dass ich die Überzeugungen, mit denen ich aufgewachsen bin, niemals verraten werde, nur um bei der Auslese zu bestehen, ganz gleich wie groß meine Angst noch werden wird. Und ich werde das Schicksal dieses Mädchens nicht vergessen.
    Tomas’ Kiefer verhärten sich, als er einen letzten Blick auf die Grabstelle wirft, ehe wir wieder unsere Räder besteigen. Schweigend radeln wir den restlichen Tag über in Richtung der Straße, auf die wir irgendwo in nicht allzu weiter Ferne zu stoßen hoffen. Wir machen nur kurz halt, um Wasser zu reinigen, nachdem wir es getestet haben, Löwenzahn und wilde Karotten zu sammeln und den letzten Rest Beutelratte zusammen mit unseren verbliebenen Äpfeln zu verspeisen. Meine Beine zittern vor Erschöpfung, aber die Erinnerung an das tote Mädchen und seine leeren Augenhöhlen treibt mich an, immer weiter in die Pedale zu treten, über holprige Steine und durch dichtes Unterholz, bis die Dunkelheit hereinbricht.
    Spät am Morgen des nächsten Tages finden wir endlich die Straße. Es ist ein breiter geteerter Streifen, der sich weiter vor uns erstreckt, als wir ihm mit den Augen folgen können, was mich eigentlich freuen sollte. Stattdessen versetzt mich der hervorragende Zustand der Straße in Angst und Schrecken. Es gibt keine Löcher und keine Risse im Asphalt. Abgesehen von einigen Ausbesserungen hier und da, sehe ich keine Spuren von Reparaturen. Dieses Mal wundert Tomas sich nicht, als ich von meinem Rad absteige.
    »Glaubst du, das ist schon wieder eine Falle?«, frage ich.
    »Nach dem Teich halte ich alles für möglich«, entgegnet er und legt den Kopf schräg. »Aber ich glaube nicht. Sieh mal dort.«
    Ich kneife die Augen zusammen und schaue in die Richtung, in die er zeigt. Da sehe ich es. In einiger Entfernung wird die Umgebung von einer leuchtend blauen Linie durchzogen. Der südliche Zaun des Gebietes für die Kandidaten der Auslese. Die Linie, die wir nicht überschreiten dürfen.
    »Ich wette, das Komitee hält diese Straße in Schuss, um jedes Jahr die Grenzmarkierungen anbringen zu können.« Tomas kramt in seiner Tasche und holt seinen Atlas hervor. »Dieser Karte nach zu urteilen, führt die Straße den ganzen Weg bis zur südwestlichen Seite des alten Bundesstaates und verbindet sich dort mit einer weiteren Straße, die direkt bis nach Tosu-Stadt reicht. Die Offiziellen müssen problemlos von Tosu-Stadt aus zu den Startpunkten der einzelnen Kandidaten und wieder zurück kommen. Ich wette, dafür ist diese Straße gedacht.«
    Die Überlegung ist nicht von der Hand zu weisen. Aber es ist nicht Tomas’ Logik, die mich überzeugt. Es ist die Karte selbst, die mir verrät, dass die vor uns liegende Straße auf dem Weg nach Tosu-Stadt durch mehrere Städte führt. Die lebhaftesten Träume meines Vaters haben in einer Stadt gespielt, deren Gebäude noch nicht völlig zerstört waren. Wenn die Prüfer uns Fallen stellen wollen, dann wären

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