Die Aussortierten (German Edition)
deren Ansprüche tatsächlich erfüllen möchten, und andererseits überfordert sind und gegen diesen Leistungs- und Anpassungsdruck rebellieren. Wobei die Überforderung nur ein Aspekt ist. Es ist wahrscheinlich auch ein Gefühl von tiefer – aber eben verdrängter – Kränkung, Enttäuschung und Trauer. Weil die Jungs eben tief im Innern spüren, dass sie in ihrer Familie nie als sie selbst geschätzt und anerkannt werden, sondern immer nur dann Wertschätzung bekommen, wenn sie funktionieren und leisten. Diese Raubüberfälle sind deshalb für die Jungs wahrscheinlich so etwas wie eine seelische Selbstverteidigung. Im Grunde genommen können sie einem leid tun.“
„Nun werde aber nicht zu sentimental, ja. Immerhin haben die Jungs viele Leute in Angst und Schrecken versetzt und einen Kollegen brutal niedergeschossen und sind wahrscheinlich auch sonst nicht zimperlich. Ich will damit sagen: Genauso kalt und skrupellos wie fast alle da oben.“
„Hast ja Recht, Djallo. Aber die Wahrheit ist eben nie nur eindimensional, sondern äußerst komplex.“
„Sag mal, wie sieht es jetzt mit Haftbefehlen aus?“
„Hab ich schon besorgt,“ erwiderte de Wall.
„Ach, und wie hat unser Freund Bunjes so aus der Wäsche geguckt, als du ihm die Namen vorgehalten hast? Hat er sich in die Hosen gemacht?“
„Er hat gar nicht geguckt. Er ist nämlich krank und wird zur Zeit von einem Referendar vertreten. Der hat ohne großes Aufhebens den Durchsuchungsbeschluss ausstellt. Der konnte mit den Namen nichts anfangen.“
„Du bist gemein. Du hättest den Referendar wenigstens über die Brisanz aufklären können“, empörte sich Tessa.
„Warum? Wollen wir nun ein Rechtsstaat sein oder nicht? Wenn wir einer sein wollen, dann darf auch das Ansehen der Person keine Rolle spielen. Wenn der Referendar tatsächlich einen auf den Deckel kriegt, weil er sich in diesem brisanten Fall nicht mit seinem Vorgesetzten abgestimmt hat, dann weiß er wenigstens schon mal, was es so mit unserem Rechtsstaat auf sich hat. Also, trommelt eine Mannschaft zusammen. Ich denke, für die Jungs brauchen wir kein SEK. Die werden friedlich sein. Wir drei gehen zu Wilko Bretendorp. Ich würde mal sagen, wir versuchen es um 18.30 Uhr. Dann haben wir die größte Chance, dass die zu Hause sind.“
Als de Wall einen Moment später allein im Büro ist, fällt sein Blick auf die Oldenburger Tageszeitung. Einen Moment überlegt er, ob er der Presse einen Tipp geben soll. Vor einigen Monaten hätte ich noch mit Vergnügen Bretendorp und den anderen Bonzen die Presse auf den Hals gehetzt, so wie es irgendjemand seinerzeit mit Zumwinkel gemacht hat, damit die endlich auch mal spüren, wie Arbeitslose sich fühlen, wenn sie von den Medien und der Gesellschaft gehetzt werden, dachte de Wall. Aber aus irgendeinem Grund hatte sich dieses Bedürfnis nun in Luft aufgelöst. Er konnte in diesem Moment in Bretendorp und den anderen Betroffenen nur Menschen sehen, die sich gleich entsetzlich fühlen würden. Und bei aller Abneigung die er gegen Leute wie Bretendorp hegte, in diesem Moment hatte er Mitleid mit ihnen. Es machte ihm keinen Spaß, Menschen weh tun zu müssen. Selbst, wenn diese es manchmal vielleicht sogar verdienten.
Wie geplant standen de Wall, Djallo und Tessa um Punkt 18.30 Uhr in der Ackerstraße vor einem schönen Altbau und klingelten bei Wilko Bretendorp. Ohne Erfolg.
„Wisst ihr was? Ich glaub, ich weiß, wo der ist. Heute stand in der Zeitung, dass Bretendorp heute seinen 60. Geburtstag hat. Den wollte er zu Hause im kleinen Kreis in der Familie und mit ein paar Freunden feiern. Hat ausdrücklich auf ein großes Brimborium verzichtet“, meinte Djallo.
„Dann werden wir wohl nicht darum herumkommen, ihm ein sehr hässliches Geburtstagsgeschenk zu machen“, erwiderte de Wall.
Gegen 18.50 Uhr standen sie vor Bretendorps Villa im Dobbenviertel. Am Straßenrand parkte ein blauer VW Scirocco aus den achtziger Jahren im allerbesten, nämlich exquisit restauriertem Zustand. Sie hatten also Recht gehabt. Wilko Bretendorp war bei seinen Eltern, um am der Geburtstagsfeier teilzunehmen. Kurz nachdem sie am Gartentor geklingelt hatten, ertönte schon der Summer und das Tor ließ sich öffnen.
„Die erwarten jemand anders“, meinte de Wall.
In der Tür stand, zunächst noch mit gutgelauntem, entspannten Gesicht, dann überrascht schauend, Dr. Bretendorp.
„Na, das ist ja wirklich
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