Die Auswanderinnen (German Edition)
wollten nach Melbourne oder Brisbane, und einige Wagemutige zog es sogar aufs Land. Aber Johanna und ihre Freunde hatten in den vergangenen drei Wochen schon genug Landleben genossen, um sich vorstellen zu können, dass diese Menschen ihre Entscheidung, in den tristen, abgeschiedenen australischen Busch zu ziehen, der so gar nichts mit dem zivilisierten europäischen Leben außerhalb der Städte zu tun hatte, schon jetzt bitter bereuten. Aber an ihrer noch im Heimatland getroffenen Wahl, auch wenn sie in großer Unkenntnis der tatsächlichen Bedingungen vor Ort getroffen worden war, konnte im Nachhinein nichts mehr geändert werden. Doch zumindest sie hatten sich richtig entschieden, beglückwünschten sich die sechs Freunde insgeheim.
Kurt wurde gleich nach der Ankündigung aktiv. Er hatte in ihrer Gruppe inzwischen die Führungsrolle übernommen, ein Umstand, der von Dieter und Uwe ohne Widerrede akzeptiert und von den Frauen ebenfalls für gut befunden worden war. Kurt war immer der Wortführer, wenn es darum ging, Pläne zu verwirklichen. Kurt wusste als Einziger von ihnen, wie man ein Lagerfeuer entfachte, Bratwürste und Bier aus der Kantine organisierte, den Tag am sinnvollsten einteilte, und sogar, wie man die Hütte von Ungeziefer freihielt. Sie waren alle viel zu sehr Stadtkinder. Ihnen war nicht einmal klar gewesen, dass Essensreste in den Schlafhütten nichts zu suchen hatten.
Kurt war so praktisch veranlagt, er wusste einfach alles und erklärte es geduldig und logisch, wer hätte da seinen Führungsanspruch anzweifeln wollen? Im Gegenteil, sie waren ihm dankbar dafür. Alle fünf suchten sie oft seinen Rat. So auch nach der Ansprache des Campdirektors. Mit der erlösenden Nachricht, endlich weiterreisen zu dürfen, kam auch die Aufregung zurück und ihre Blicke richteten sich sofort auf Kurt. Doch er nickte nur mit vielsagendem Gesicht und bedeutete ihnen in seine Hütte zu kommen.
In Kurts und Johannas primitiver Behausung stand als einziges Möbelstück ein Doppelbett, das Kurt ganz an die Wand gerückt hatte, um etwas mehr Platz im Inneren der Hütte zu schaffen. Die Frauen setzten sich auf das Bett, während sich die Männer mit dem Rücken an die Wand am Ende des Bettes lehnten. Die Hütte war eigentlich zu eng für sechs Personen, aber es regnete an diesem Tag, und sie hatten keine andere Wahl.
Kurt begann ihnen sofort die weiteren Schritte vorzugeben: „Wir packen heute Nachmittag alles, bis auf ein Handtuch pro Paar. Wenn wir heute Abend noch duschen, wird es bis zum Morgen fast trocken sein, und wir können es ins Handgepäck legen. Falls es noch nass ist, hängen wir es in die Sonne, sobald sie aufgegangen ist. Der Regen hört bestimmt bald auf. Morgen sollten wir nah beieinander bleiben. Wenn sie uns trennen wollen, müssen wir uns wehren.“
Sie hatten schon lange beschlossen, zusammenzubleiben, auch nach Ende ihres Lageraufenthalts. Hatten von einem gemeinsamen Haus geträumt, das sie sich mieten würden. Ihre größte Angst war, gleich nach ihrer Ankunft auseinandergerissen zu werden. Aber Kurt motivierte sie, beruhigte sie, und machte sie stark. Danach ging jeder seinen Aufgaben nach. Am Abend wollten sie sich dann ein letztes Mal ans Seeufer setzen und das Ende der trostlosen Wochen gebührend feiern. Kurt sammelte Geld ein und versprach, bei der Lagerleitung zwei Sixpacks Bier zu kaufen. Er hatte da so seine Kontakte.
Johanna holte währenddessen den leeren Koffer unter dem Bett hervor und legte ihn auf die Matratze. Sie faltete die Kleidungsstücke, die sie in den letzten Wochen getragen hatten, sorgfältig zusammen und legte sie in den Koffer. Er war nicht einmal ganz voll, als sie ihn schloss. Die anderen drei Koffer hatte Kurt ungeöffnet unter dem Bett verstaut. Sie waren vollgestopft mit Erinnerungsstücken an die Heimat, wurden von Kurt in ihrer jetzigen Situation jedoch als völlig nutzlos und unnötig angesehen. Als Johannas Blick auf die Koffer fiel, spürte sie plötzlich ein dumpfes Ziehen in ihrem Bauch. Es war so stark, dass sie sich vornüberbeugen und die Hände auf den Unterleib pressen musste. Die Andenken an ihr früheres Zuhause! Die Heimat mit ihrer gewohnten Umgebung! Die herrlichen Herbsttage in Heidelberg! Sogar das Schwesternwohnheim fiel ihr wieder ein, das ihr zurückblickend wie ein prächtiger Bau erschien, mit seinen verputzten Ziegelwänden und dem gepflegten Garten. Unbekannter, unsäglicher Schmerz durchzog sie und beherrschte plötzlich ihren
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