Die Auswanderinnen (German Edition)
gedacht, zurückzugehen – ich war immer gern hier!“, äffte sie ihre Bemerkung von vorhin nach. Was für eine grandiose Lüge! Mit zittrigen Händen suchte sie in ihrer Geldbörse nach Kleingeld, fand aber nur noch eine Ein-Dollar-Münze. Sie würden sich einen Kaffee teilen müssen.
Eine halbe Stunde später waren sie wieder auf dem Highway. Eva döste eine Weile auf dem Beifahrersitz vor sich hin, dann begann sie unvermittelt: „Ich finde es unglaublich, wie wir uns gegenseitig belogen haben.“
Isabella nickte nur. Ihre Augen waren hinter ovalen, schwarzgetönten Brillengläsern verborgen. Sie wusste, dass sich Evas Kommentar nicht nur auf ihr Gespräch im Motel bezog, sondern auch auf all die anderen Jahre ihrer Freundschaft. Schweigend fuhren sie auf der monoton geradlinigen Strecke nach Norden und hingen ihren Gedanken nach. Die alten Geschichten begnügten sich plötzlich nicht mehr damit, ihnen den Schlaf zu rauben, jetzt schlichen sie sich auch schon bei Tag in ihre Köpfe.
Kapitel 16
Sydney, damals
Ein alter, klappriger Reisebus brachte sie nach Sydney. Je näher sie der Großstadt kamen, umso ruhiger wurde es im Bus. Alle starrten gebannt aus den Fenstern, sahen aber kilometerweit nur öde Landschaft an sich vorbeiziehen, ohne eine einzige Ortschaft. Nichts als unberührte, karge Natur, soweit das Auge reichte, bis sie plötzlich den südlichsten Teil Sydneys erreichten.
Um vier Uhr nachmittags kamen sie in dem neuen Camp mit dem hübschen Namen Villawood an. Wieder wurden ihnen Hütten zugeteilt, bei denen es sich diesmal aber um feste Holzkonstruktionen handelte, mit richtigen Dächern, in einer gepflegten Anlage.
Kurt war organisatorisch gefordert. Er wollte für sich und seine Freunde nebeneinanderliegende Hütten zugeteilt bekommen und konzentrierte sich daher auf seine kläglichen Sprachkenntnisse, als er in das spartanisch eingerichtete Büro der Lagerleitung stapfte und seine Forderung vortrug. Doch der gestresste Verwalter, der mit zwei völlig überlasteten Helfern das bürokratische Procedere für fast hundert Neuankömmlinge zu bewältigen hatte, winkte nur genervt ab. Die Einwanderer waren für ihn nichts anderes als lästiges Pack. Blutsauger seines geliebten Australiens, die er am liebsten wieder in die unterentwickelten Länder zurückgeschickt hätte, aus denen sie, mit nichts als Flausen im Kopf, hierhergekommen waren. Obwohl er Kurts krampfhafte Erklärung ziemlich genau verstanden hatte, ignorierte er ihn. Sollte sich dieser grobklotzige Primitivling doch zum Teufel scheren, er hatte jedenfalls keine Lust, für so einen auch noch Kindermädchen zu spielen.
Kurt verstand sofort. Der Mann und die schweigenden Helfer an seiner Seite waren Beamte in grauen, uniformähnlichen Anzügen, die ihren Job – das Lager zu verwalten – einigermaßen ordentlich verrichteten. Ihren Papierkram in Ordnung hielten, vielleicht auch die Bücher zu ihrem Vorteil manipulierten, sich aber nicht für das Wohl der Lagerbewohner zuständig fühlten. Kurt konnte das verstehen. Damit hatte er kein Problem, im Gegenteil, er fühlte sich dadurch erst recht dazu ermutigt, sich über den Willen der Lagerleitung hinwegzusetzen, die die Ankömmlinge willkürlich über das gesamte Lager hinweg verteilt hatte. Kurz entschlossen siedelte er drei protestierende Paare aus den Unterkünften, die sie bereits bezogen hatten, in drei andere um und belegte die Ersteren für sich und seine Freunde. Niemand hatte mitbekommen, was er zu den Vertriebenen gesagt hatte, auf jeden Fall hatten diese ihren anfänglichen Widerstand ziemlich rasch aufgegeben.
So zogen Eva und Uwe links, und Isabella und Dieter rechts von „Kurts Hütte“ ein. Kurts Hütte war eine Bezeichnung, die Johanna gedanklich für sich festgelegt hatte. Es war Kurts Geld, Kurts Essen, Kurts Idee, Kurts Meinung.
Da der Ernst des Lebens nun endlich beginnen würde, wollten sie ihre Tage nicht länger damit verbringen, faul im Camp herumzulungern und auf den Abend zu warten. Gleich nach ihrer Ankunft meldeten sie sich für den Intensivkurs an, der vier Wochen dauern und bereits am nächsten Tag beginnen sollte.
Von nun an verging die Zeit wie im Flug. Von acht Uhr morgens bis abends sechs Uhr wurden sie in der fremden Sprache gedrillt und waren danach geistig völlig ausgelaugt und zu erschöpft, um noch Vokabeln lernen zu können. Stets trafen sie sich nach dem Abendessen noch in einer ihrer Hütten mit dem festen Vorsatz zu üben
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