Die Auswanderinnen (German Edition)
als Witwe beobachtet und ihr immer geholfen hatte, sobald sie Hilfe gebraucht hatte. Alle waren aufmerksam gewesen, ohne aufdringlich zu sein, und hatten ihre stille Stärke bewundert. Tatsächlich hatte sie fremde Hilfe auch nur ganz selten benötigt, denn in ihrer Mine kannte sie die Arbeitsabläufe gut genug, um zu wissen, wann sie eine Hilfskraft anheuern musste. Und die Reparaturen an den Maschinen waren schon zu Kurts Zeiten ihre Aufgabe gewesen. Es waren immer die gleichen Teile, die kaputtgingen, und sie besaß genügend Erfahrung, um sie wieder einsatzbereit zu machen.
„Eigentlich war ich gut auf die Witwenschaft vorbereitet“, sagte sie plötzlich und war selbst davon überrascht, was sie bereits alles schon alleine durchgestanden hatte. „Denn meine bessere Hälfte hat immer darauf bestanden, dass ich mitarbeite. Ha, was heißt mitarbeite! Alles musste ich machen. Manchmal habe ich die Sonne wochenlang nicht gesehen. Früh morgens hieß es runter in den Schacht und erst abends durfte ich wieder rauf. Sogar meine belegten Brote musste ich mittags unten essen.“
Eva war sichtlich erschüttert. „Wie schrecklich, aber das hätte ich einfach nicht getan! Der Schacht hat mir immer Angst gemacht, wisst ihr noch? Ich habe mich immer geweigert, auf dieser wackeligen Leiter in dieses grauenhafte, dunkle Loch hinunterzusteigen. Kein einziges Mal bin ich rein, ich habe euren Mut immer bewundert.“
Jo Anns Räuspern klang irgendwie verächtlich und wurde von Eva auch so verstanden. Doch als sie sich rechtfertigen wollte, stoppte Jo Ann sie mit erhobener Hand. „Lass nur, ist ja gut! Ich kann dich gut verstehen, ich hatte auch verdammte Angst am Anfang.“
„Tatsächlich? Ist das wahr? Das hätte ich gar nicht vermutet. Wie hast du denn deine Angst überwunden?“
Jo Ann überlegte lange. Sollte sie erzählen, mit welchen Methoden ihr die Angst ausgetrieben worden war? Würden ihre Freundinnen ihr glauben oder würde sie ihr bitteres Geständnis schon morgen bereuen? Vielleicht war es der Whisky, vielleicht war es auch die ungewohnte Gesellschaft und die Erinnerung an ihre frühere Freundschaft. Wie unter Zwang begann sie zu erzählen, zögerlich zuerst, nach Erklärungen suchend, und dann, als sie die Anteilnahme der beiden Frauen wie eine wärmende Decke spürte, freier und ungehemmter.
Sie berichtete, wie Kurt sie zum ersten Mal dazu aufgefordert hatte, mit zur Mine zu kommen und ihm zu helfen. Wie sie ihm gesagt hatte, dass sie dort unten kaum Luft bekam und sich wie lebendig begraben fühlte. Wie Kurt daraufhin gelacht und sein Lachen ihr Angst gemacht hatte, wusste sie doch nur zu gut, dass es stets nachfolgende Grausamkeiten ankündigte. So lachte er immer, wenn er Schwäche und Hilflosigkeit bei ihr wahrnahm, die er ihr, zu ihrem Wohle natürlich, unbedingt austreiben musste.
„Daran wirst dich gewöhnen müssen“, hatte er erwidert, „das ist jetzt unser Leben. Von heute an wirst du jeden Tag in der Mine verbringen und mir helfen, also muss ich dir die Angst austreiben.“ Und er wusste auch schon wie: indem er sie ankettete! Die Kette, die er eigens dafür kaufte, war lang genug, damit sie den gesamten Hauptschacht entlanggehen konnte, denn es war ihre Aufgabe, das Stein- und Lehmgeröll, das Kurt mit seinem Presslufthammer von den Wänden löste, in Eimer zu füllen und zum vorderen Eingang zu tragen. Dort wurde es dann von Kurt nach oben gezogen. Bei dieser Arbeit befand sich Kurt natürlich im Freien, während sie den ganzen Tag über unten im Schacht bleiben und die leeren Eimer füllen musste, die er immer wieder neben der Leiter hinunterließ. Denn damals besaßen sie noch kein Förderband. Stundenlang stand sie gebückt im Halbdunkeln, hielt Ausschau nach den braunen Schlangen, die sich besonders gern in der Nähe des Schachteingangs aufhielten, und füllte die verdammten Eimer, einen nach dem anderen. Immer mit der Kette am linken Knöchel, wie ein Sträfling. Sogar als sie schon lange keine Angst mehr hatte, nicht mehr leise weinte und jammerte, sondern einfach arbeitete, auf seine Kommandos hörte und nicht mehr daran dachte, dem Horror in der Tiefe zu entfliehen, kettete er sie an. Es schien ihm zu gefallen. Oft kletterte er spät am Abend sogar noch ein letztes Mal nach unten, wenn sie keine Kraft mehr hatte, um zu arbeiten, nahm sie in die Arme und spielte mit ihr, wie mit einer Puppe. Er öffnete das Schloss erst, wenn er mit ihr zufrieden war. Aber diesen Teil der Geschichte,
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