Die Auswanderinnen (German Edition)
„Die Situation hat sich seitdem geändert! Versteh doch endlich, er ist gefunden worden, mit einem Loch im Schädel, und sie werden Fragen stellen. Was soll das alte Versprechen da noch nützen? Wen soll es schützen?“
„Dich!“, beharrte Isabella stur. Sie stand vor dem Tisch und warf Eva einen flehenden Blick zu. „Versuch du es. Irgendjemand muss ihr doch begreiflich machen, wie unsinnig es ist, nach Sydney zu fahren. Verflucht, was soll die ganze Panik?“
Eva wollte die Situation entschärfen, indem sie das Thema wechselte und fragte: „Hat Ben sehr leiden müssen?“
Jo Ann schüttelte den Kopf. „Es ging ganz schnell. Das ist es ja! Gestern war er noch putzmunter. Es gab überhaupt keine Anzeichen dafür, dass er Schmerzen hatte oder krank war. Und heute Morgen ...“ – sie presste die Augenlider zusammen, um die von Neuem aufsteigenden Tränen zurückzuhalten – „... heute Morgen lag er dann völlig apathisch da, ich musste ihn sogar ins Auto tragen! Stellt euch das vor ... er hatte einfach nicht mehr die Kraft ... er konnte nicht einmal mehr ...“
„Schon gut“, sagte Eva. „Und weiter?“
„Ich habe ihn in die Tierklinik gebracht.“ Jo Ann schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch, das ihr John gereicht hatte. „Dort haben sie ihn untersucht, und dann hat Doktor Roth gemeint, es sei besser ... es sei wohl besser, wenn wir ihn ...“ Alle warteten, bis sie sich wieder soweit beruhigt hatte, dass sie fortfahren konnte. „Danach durfte ich ihn mit nach Hause nehmen. Doktor Roth hat gesagt, ich soll ihn im Garten beerdigen, das hätte er verdient. Das sei ich ihm schuldig. Die letzte Ehre soll ich ihm erweisen, dann würde ich mich auch besser fühlen.“
Eva verstand schneller als Isabella, die noch immer, fassungslos über die neue Thematik, mit der sie absolut nichts anfangen konnte, mit hängenden Armen und verstörtem Gesichtsausdruck vor ihnen stand. „Und dann hast du gedacht, was für den Hund richtig ist ...“ Eva konnte und wollte den Satz nicht beenden.
„Ja, ich will Kurt zurückholen und hier begraben“, bestätigte Jo Ann. „Nur dann kann er Ruhe finden. Und ich auch.“
„Aber Jo Ann“, begann Isabella nun wieder und rutschte zurück auf die Bank, „das kann doch nicht dein Ernst sein! Nach all den Jahren ...“
„Ich habe in all den Jahren keine Ruhe gefunden“, sagte Jo Ann bestimmt. „Du vielleicht?“
Es war nicht nötig, zu antworten. Die Frauen sahen einander bedrückt an. Keine von ihnen hatte seitdem Ruhe gefunden, sofern man unter Ruhe das Glück verstand, ein unbeschwertes Leben führen zu können. Ohne andauernde innere Zweifel, und ohne die vielen halbdurchwachten Stunden, in denen ein harmloser Schatten plötzlich Kurts Umrisse annehmen konnte.
John versuchte dem Gespräch wieder eine neue Wendung zu geben. „Ich denke Jo Ann hat Recht, und ihr solltet alle miteinander zurück nach Sydney fahren und euch dort erkundigen, was die Polizei tatsächlich mit den Knochenresten vorhat. Und ob sie der Sache wirklich so viel Bedeutung beimisst. Es ist vernünftiger, auf Tatsachen zu reagieren, als sich von Vermutungen tyrannisieren zu lassen. Den Kopf in den Sand zu stecken, bringt euch jedenfalls nicht weiter. So wie ich die ganze Sache sehe, hat außerdem niemand wirklich Schuld an dem, was mit Kurt geschehen ist.“
„Ach“, meinte Isabella in dem ihr eigenen schnippischen Tonfall, der ihr schon so oft geschadet hatte. „Ach, und was bitte schön, weißt du schon von der ,Sache‘, wie du das Ganze so schön nennst? Sollen wir etwa nach Sydney fahren und sagen: Hallo Leute, hier sind wir! Wir wollen uns nur mal ganz unverbindlich nach dem Loch im Schädel des Skeletts erkundigen und eventuell unsere kleine Story von damals berichtigen. Wisst ihr, Kurt ist gar nicht jagen gegangen und hat sich auch nicht versehentlich den Schädel weggepustet. Jo Ann wird euch jetzt eine ganz andere Geschichte erzählen ... nur wissen wir noch nicht, was sie eigentlich erzählen will! Sie weiß es selbst noch nicht so genau – es kommt ganz darauf an, was ihr uns zuerst zu erzählen habt! Wie viele Knochen habt ihr denn gefunden? Nur ein paar? Fein, dann war der Unfallort wohl genau dort, wo Johanna gesagt hat, und es waren Tiere, die den Rest davon weggeschleppt haben! Eine Schädeldecke, die in hundert Teile zersplittert ist? Prima, dann war es selbstverständlich ein Schuss aus Kurts eigenem Gewehr! Oder lässt sich aus der verbliebenen Form des Schädels
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