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Die Auswanderinnen (German Edition)

Die Auswanderinnen (German Edition)

Titel: Die Auswanderinnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: helga zeiner
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Kurt war zwar ein ziemlicher Scheißkerl, ich persönlich habe ihn nie gemocht und ihm immer einiges zugetraut, aber was uns Jo Ann gestern erzählt hat ... ich weiß nicht, das ist schwer zu glauben. Kurt müsste ein Sadist ersten Grades gewesen sein, um so etwas tun zu können. Und Jo Ann müsste völlig jenseits von Gut und Böse gewesen sein. So etwas lässt man doch nicht mit sich machen. So etwas erduldet man doch nicht. Höchstens einmal, aber dann nie wieder! Sie hätte sich wehren müssen! Ich weiß nicht, wenn man so etwas zulässt, ist man doch nicht ganz richtig im Kopf ...“
    „Willst du damit etwa sagen, dass Jo Ann verrückt ist und fantasiert?“ Eva dachte ernsthaft darüber nach.
    „Möglich!“
    „Aber das würde ja bedeuten, dass sie in der Nacht, als Kurt starb ...“
    „Was?“, fragte Isabella.
    „Oh, nichts. Mir fiel nur gerade ein, wie energisch und zielgerichtet sie in jener Nacht vorgegangen ist. Könnte sie damals auch schon verrückt gewesen sein? Nein, das glaube ich nicht.“ Eva verstummte und räusperte sich. Es war schwer, die richtigen Worte zu finden. „Nein, sie war ganz normal und ich denke, was sie uns gestern erzählt hat, entspricht der Wahrheit. Kurt war wirklich ein Sadist! Du weißt doch selbst, wie gefährlich und gemein er sein konnte. Kurt war ein Verbrecher.“
    Isabella ging resolut auf das Hoftor zu. „Ich werden sie bitten, uns mehr zu erzählen.“
    „Ich finde, wir sollten sie nicht darauf ansprechen. Das ist doch alles so peinlich.“
    „Oh doch!“ Isabella beschleunigte ihre Schritte. „Ich will es wissen! Ich muss es wissen!“
    Sie ging nun so schnell, dass Eva kaum mithalten konnte. „Warum ist dir das plötzlich so wichtig? Es kann dir doch egal sein. Kurt ist tot, was passiert ist, interessiert niemanden mehr! Das hast du selbst gesagt.“
    „Falsch!“ Isabella blieb wieder stehen, und Eva wäre beinahe in sie hineingelaufen. „Wenn Kurt so ein Schwein, so ein sadistisches Monster war, dann wäre es doch nachvollziehbar, wenn Jo Ann ihn im Affekt getötet hätte. Ich meine, sollte es jemals dazu kommen, dass sie eine Verteidigungsstrategie braucht. Verstehst du? Wenn sie Kurt wirklich nach all der Zeit identifizieren können und Jo Ann beschuldigen, den Jagdunfall vorgetäuscht zu haben, weil sie etwas Schlimmeres vertuschen wollte, dann ist ihre Geschichte doch zumindest eine Erklärung. Und keine schlechte! Sie kann behaupten, dass sie aus Notwehr gehandelt hat. Und das können wir bestätigen, Kurt war ja wirklich ein ziemliches Ekel. Dafür müssen wir aber die Wahrheit von Jo Ann erfahren. Sie muss uns alles erzählen.“
    Eva war schockiert. Das konnte einfach nicht wahr sein! Isabella bastelte sich offenbar allen Ernstes ein Szenario zusammen, in dem sich Jo Ann für eine Tat rechtfertigen sollte, die sie überhaupt nicht begangen hatte. Isabella begab sich mit ihrem Gerede in Teufels Küche.
    „So schlimm war Kurt nun auch wieder nicht“, meinte sie deshalb halbherzig.
    „Lass die Schönfärberei“, wiegelte Isabella ziemlich heftig ab. „Er war ein Macho, ein Kontrollfreak!“
    „Das waren alle unsere Männer. Dieter war nicht viel besser als Kurt, und Uwe auch nicht!“
    „Aber keiner war so selbstherrlich wie Kurt. Man konnte mit ihm doch nie über irgendetwas diskutieren. Er hatte immer Recht und ließ keinerlei Einwand zu. Vor allem nicht bei Jo Ann. Wenn ich es mir recht überlege, hat er sie sogar bis zur eigenen Selbstaufgabe hin dominiert. Sie hatte ja gar keine eigene Persönlichkeit mehr. Im Gegenteil zu gestern Abend. Da hat sie geredet und getrunken, so kenne ich sie gar nicht – oder du vielleicht?“
    Eva resignierte. „Nein! So war sie früher nie, das stimmt. Also gut, wir werden sie auf diese unglückselige Geschichte ansprechen. Aber sei nicht so hart mit ihr und wirf ihr nicht gleich vor, dass sie uns ein Lügenmärchen aufgetischt hat. Und nenn sie bitte auch nicht verrückt oder bezichtige sie des Mordes an Kurt ... das wäre ja nun wirklich ein starkes Stück.“
    Aber Isabella hörte ihr schon nicht mehr zu. Sie rief lauthals nach Jo Ann. „Hallo, wir sind es. Komm und mach uns auf. Ich rühre dieses Tor nicht an.“
    „Jo Ann!“, rief nun auch Eva in Richtung des Wohnhauses, und erst jetzt fiel ihnen auf, dass keiner der beiden Hunde angeschlagen hatte. „Jo Ann!“, riefen sie nochmals.
    Wieder keine Antwort. Da bemerkten sie, dass Jo Anns Auto nicht im Hof stand.
    „Sie ist nicht da.“

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