Die Babysammlerin (Contoli-Heinzgen-Krimi)
vorsichtshalber unter Drogen gesetzt worden war, schrie Nora so gellend auf, dass alles um sie herum erstarrte. Sie brüllte minutenlang wie von Sinnen. Schlug wild mit ihren Fäusten nach den Armen, die sie bändigen wollten. Simeon war nach vorne gestürzt und sich des kleinen Körpers auf dem Opfertisch bemächtigt. Cara war gerettet. Viktor gab mit unbeweglicher Miene dem Kapuzenmann neben der Orgel ein Zeichen. Seine Finger fanden ohne hin zu sehen den Schalter. Gleich darauf erklangen in einem tosenden, unheildrohenden Gemisch die Orgelpfeifen. Eine Musik, die das tiefste Innere durcheinanderwirbelte. Nora brach zusammen. Später war sie neben Cara auf der Matratze aufgewacht. Simeon hockte seitlich neben ihnen, in der Hand eine Flasche Wodka, von dem er Nora einflößte.
Versonnen strich Anke mit den Fingern über die aufgeraute Fläche unter diesem letzten Satz. Hier hatte etwas geklebt, vielleicht ein Foto, das im Nachhinein herausgerissen worden war. Gefüllt mit schweren Gedanken ließ Anke die Kladde auf ihren Schoß sinken, beugte sich vor, stützte beide Arme auf ihren Knien ab und lagerte den Kopf in ihren Händen. So saß sie eine ganze Weile und dachte nach. Menschenopfer. Sie überlegte. Das Kind war nach den Schilderungen zu dieser Zeit vier oder fünf Jahre gewesen, was schließen ließ, dass sich das gerade Erzählte circa 1988 oder 89 abgespielt hatte. Es müsste doch irgendwo ein Bericht über eine satanische Sekte in diesem Zeitraum in Berlin existieren. Sie beschloss, dem nachzugehen. Das Telefonklingen schreckte sie auf. In ihrem kleinen Appartement benötigte sie nur ein paar Schritte bis zum Schreibtisch unter dem Fenster, auf dem auch ihr PC stand, allerdings nicht gerade arbeitsgerecht. Sie blickte schnell auf die Uhr, zwanzig nach vier am Nachmittag. Wolf konnte es inmitten der Stunde also nicht sein. Sie meldete sich und unterdrückte ein Gähnen, lesen machte müde und der Stoff war emotional anstrengend.
„ Sie ist nicht gekommen, Anke.“
Anke schwieg einen Moment verdutzt.
„Wolf?“, fragte sie erstaunt.
„ Was ist los, hast du geschlafen?“
„ Nein, gelesen.“
„ Ohne mich?“
„ Wer ist nicht gekommen?“
Kaum hatte sie die Frage formuliert, wusste sie, wen Wolf meinte. Er fuhr aufgebracht fort.
„Diese Freundin von Leon Kortes. Erst macht er’s ganz dringend und dann puff, hohle Stunde. Vor lauter Ärger bin ich nicht mal an den Schreibtisch.“
„ Du freust dich doch sonst immer über eine Leerstunde.“
„ Ja, sicher, aber ich habe extra einen Patienten nach hinten geschoben, nun muss ich eine Stunde länger arbeiten.“
„ War da nicht was mit strenger Bettruhe der Patientin?“
„ Rechtzeitig absagen kann man auch vom Bett aus.“
„ Dann ruf du doch an.“
„ Unter der alten Nummer gibt’s keinen Anschluss.“
„ Dann vergiss es und lass uns nachher schön essen gehen, ich habe noch ein winziges Weihnachtsgeschenk für dich.“
„ Ach, komm.“
„ Doch, das habe ich an dem chaotischen Hl. Abend völlig vergessen. Ein Essen würde dazu passen.“
„ Gut“, antwortete Wolf, „wie wär’s trotz BSE mal mit einem saftigen Steak?“
Beim Espresso mit Grappa schob Anke einen mintgrünen zusammengerollten dünnen Karton, dekoriert mit einer dunkelgrünen satten Schleife über den Tisch.
„ Oh wie fein“, grinste Wolf, „ist es das?“
„ Nun roll schon auf.“
Anke öffnete unterhalb des Tisches diskret ihren Hosenknopf und atmete tief durch.
„So ein Riesensteak habe ich schon lange nicht mehr verputzt. Weißt du, was Woody Allen darüber sagt?“
Sie beobachtete Wolf, wie er den Kopf auf ihre Frage hin schüttelte, während er auf die Schleife starrte, als wäre sie die größte Herausforderung seines Lebens.
„Was denn?“ murmelte er.
„ Ich hasse die Wirklichkeit, aber sie ist der einzige Ort, an dem man ein gutes Steak bekommt’.“
„ Der Mann hat Ahnung vom wirklichen Leben“, scherzte Wolf. Seine Finger waren schon in der Schleife. Anke nippte am Espresso und beobachtete sein Gesicht, während er die Verzierung löste, den Karton ausrollte, auf den in Gold gehaltenen Text starrte und sein Schnauz zu zucken begann. Anke wusste, was kommen würde.
„ Aber bitte, Anke, meine Liebe, ich brauche doch keinen Kochkurs. Hast du mich da etwa schon angemeldet.“
„ Jetzt lies richtig.“
„ Neiiin!, ich fass es nicht!“ bekundete er unvermittelt, stand abrupt und polternd auf und gab Anke über den
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