Die Baeren entdecken das Feuer
sollen – und ich bin überzeugt, daß es so kommt, wenn wir nicht einschreiten –, dann werden im Verhältnis zum Körper sehr weit auswachsen. Dann sieht er nicht mehr wie ein Cherubim aus, sondern wie ein Vogel. Ein Monstrum.
Er bleibt schließlich nicht ewig ein kleines Kind«, fuhr der Arzt fort. »Er wird heranwachsen, und was dann? Er kann doch nicht herumhüpfen und wie ein Albatros riesige Flügel hinter sich herziehen. Es würde ihm kaum möglich sein zu gehen. Er könnte weder schwimmen noch an irgendwelchen Sportaktivitäten teilnehmen. Er wird sich nicht einmal richtig hinsetzen können. Ich sage Ihnen, wir müssen diese Flügel abnehmen.«
Der Doktor hatte recht. Ich stellte mir den Jungen vor, an der Seitenlinie des Sportplatzes stehend und den anderen beim Football zuschauend. Mit herabhängenden Flügeln, durch die der Wind geht. Oder ich sah ihn im Geiste am Strand entlangspazieren, vorbei an Kindern, die in den Wellen spielen, und von neugierigen Müttern begafft, weit vornüber gebeugt, um ein Gegengewicht zu den schweren Flügeln zu schaffen, die er durch den Sand hinter sich herschleift.
Doch wie sollte ich sicher sein? Vielleicht waren die Flügel tatsächlich ein Handicap, aber welche Folgen hätte eine Amputation? Was, wenn George eine Vogelseele hätte? Vielleicht, so dachte ich, war er spirituell und emotional darauf eingestellt, Flügel zu tragen; vielleicht lag ihm gar nichts daran, auf dem Boden herumzuspazieren. Wie auch immer, mir fehlte der Mut, mit Katie darüber zu reden. Sie war so empfindlich. Also ging ich mit meinen Zweifeln zum Pfarrer.
»Absurd!« sagte der Pfarrer. »Niemand hat eine Vogelseele, außer – vielleicht – ein Vogel. Aber was ein rechter Junge ist – der kommt nicht einfach so zur Welt; der wird gemacht. Wenn George wie ein normaler, gesunder Junge erzogen wird, wird er als normaler, gesunder Junge glücklich sein. Was für eine Alternative bliebe denn auch? Ihn als Vogel in der Familie aufzuziehen? Als eine Möwe unter Menschen? Wenn diese Flügel nicht wegkommen, wird er verstoßen sein, wo er auch ist, alle Blicke auf sich lenken und gehänselt werden. Er wird nicht bloß körperlich, sondern auch seelisch behindert sein. Was wäre das für ein Leben? Bedenken Sie doch: er wird am Alltag der Menschen nicht teilhaben können. Die normalsten Dinge der Welt, wie etwa Busfahren, werden für ihn ein Alptraum glotzender Blicke und gehässigen Getuschels sein. Wenn er zur Schule geht, werden ihn die Klassenkameraden zu rupfen oder die Federn in Brand zu stecken versuchen…«
»Die brennen nicht.«
»Er wird außerstande sein, einen Anzug zu tragen oder ein Auto zu steuern. Wie sollte er jemals heiraten, Freunde finden oder einen Beruf ausüben? Ich flehe Sie an, Sir, befreien Sie den Jungen von diesen Flügeln?«
»George ist über einen Monat alt«, sagte ich. »Würde er sich später daran erinnern, wenn wir ihm jetzt die Flügel abnähmen? Auch ein normaler, gesunder Junge sehnt sich manchmal danach, mit ungewöhnlichen Kräften ausgestattet zu sein.«
»Ach was«, entgegnete der Pfarrer. »Erinnert sich ein Kind etwa daran, im Bauch der Mutter beziehungsweise im Himmelreich gewesen zu sein? Wie wär’s denn damit: Sie werden ihm später alles erklären, ihm, wenn er älter ist, die Zeitungsausschnitte und Fotos vorlegen. Mag er sich darüber freuen, etwas Besonderes zu sein, aber ersparen Sie ihm ein Leben in Einsamkeit.«
All das war durchaus sinnvoll. Ich hätte aus Georges Geburt einen kuriosen Umstand in einem glücklichen normalen Leben machen können. Nur eines ließ mich noch zögern – die Operation selbst. War sie kompliziert oder gefahrvoll?
»Ein Kinderspiel«, sagte er Arzt. »Da ist nichts dabei. Die Flügel lassen sich wie jedes andere Geschwür wegschneiden. Wir müssen nur noch einen Monat warten, bis das Kind für eine Anästhesie alt genug ist.«
»Wahrscheinlich brauche ich ohnehin länger, um Katie zu überzeugen«, entgegnete ich.
»Allzu lange können wir aber nicht warten. Die Flügel müssen möglichst früh entfernt werden, und zwar bevor sich Knorpel und Muskeln verfestigen. Beim jetzigen Stand würde der Junge kaum eine Narbe davontragen. Es blieben nur zwei kleine Stumpen zurück, als Erinnerung sozusagen.«
»Also gut!« dachte ich. »Sei’s drum.« Jetzt wäre nur noch Katie zu überzeugen; ich muß hart bleiben. Mit festem Vorsatz kehrte ich nach Hause zurück, doch mit der Entschiedenheit war es bald
Weitere Kostenlose Bücher