Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
Kasse, der all ihre Vorurteile über diesen Landstrich bestätigt hatte. Während sie ihren Bericht noch einmal durchging, fiel ihr auf, dass der Tankstellenbesitzer der Cousin von Åse Berit Nytorpet sein musste, mit dem ihr Mann unterwegs gewesen war. Sie beugte sich vor und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Auf dem Bildschirm erschien eine Auflistung von Straftaten. Vor fünfzehn Jahren hatte derselbe Roger Åheim eine Haftstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung verbüßt.
Weiter unten fand sie zwei Anklagen wegen Vergewaltigung. Im ersten Fall war er wegen Mangels an Beweisen freigesprochen worden. Im zweiten Fall, der elf Jahre zurücklag, hatte eine neunzehnjährige Frau ausgesagt, vom Angeklagten entführt worden zu sein. Sie hatte kleinere Verletzungen im Gesicht und am Oberkörper davongetragen. Roger Åheim hatte beteuert, dass sie freiwillig mitgekommen sei. So stand Aussage gegen Aussage, und schließlich war die Anklage fallengelassen worden.
Nina scrollte sich weiter durch das Dokument und stieß auf eine acht Jahre alte Verurteilung wegen Umweltkriminalität. Er hatte unerlaubt Jagd auf einen Luchs gemacht. Åheim versicherte, in Notwehr gehandelt zu haben, konnte das Gericht aber nicht davon überzeugen, dass dieses menschenscheue Tier ihn angegriffen habe. Außerdem hatte er seine Aussage im Laufe des Verfahrens mehrmals revidiert.
Sie hörte, wie Viken die Tür zu seinem Büro aufschloss. Sie wartete ein paar Minuten, ehe sie anklopfte und ihm die Dokumente zeigte, die sie aus dem Strafregister ausgedruckt hatte. Er wiegte seinen Kopf hin und her, während sich die Falte über seiner Nasenwurzel vertiefte. Dann strich er sich die Haut seiner Wangen glatt und sagte: »Ich rufe mal meinen Kollegen Storaker aus Åsnes an. Scheint mir ein zuverlässiger Kerl zu sein.«
Fünf Minuten später steckte er seinen Kopf zu ihr hinein.
»Mach dich bereit für einen weiteren Trip in den Urwald. Wir fahren sofort nach der Besprechung.«
Während sie auf der E6 in Richtung Norden fuhren, fragte sie sich, was Viken dazu veranlasst hatte, einen halben Arbeitstag zu opfern, um so einer vagen Spur zu folgen. Diese Routinearbeit hätte er eigentlich auch seinen Kollegen vor Ort überlassen können. Doch sie begriff mehr und mehr, dass Viken zu denjenigen gehörte, die mit der Arbeit anderer nur selten zufrieden waren. Ein einsamer Wolf, der am liebsten alles selbst erledigte. Nicht sehr effektiv, dachte sie, obwohl seine Arbeitskapazität beeindruckend war. Und warum hatte er sie bei dieser Tour dabeihaben wollen? Nicht dass sie etwas dagegen gehabt hätte, direkt mit ihm zusammenzuarbeiten. Im Grunde kam sie mit ihm besser zurecht als die meisten ihrer Kollegen. Manche von ihnen, darunter Sigge Helgarsson, mieden ihn wie die Pest. In Sigges Fall war das kein Wunder, weil Viken bei jeder Gelegenheit auf ihm herumhackte. Es war offensichtlich, dass er Arve Norbakk bevorzugte. Da Arve sich in Hedmark auskannte, war es noch verwunderlicher, dass Viken sich für sie entschieden hatte, doch sie wollte nicht länger über mögliche Gründe spekulieren.
»Was erwartest du dir von diesem Ausflug?«, wagte sie sich vor.
Viken fuhr erstaunlich ruhig. Er hatte eine Sonnenbrille im Handschuhfach gefunden und ließ seinen Blick entspannt über die weitläufige Landschaft von Romerike schweifen.
»Ich erwarte mir keinen Durchbruch«, antwortete er leichthin. »Obwohl dieser Åheim einiges auf dem Kerbholz hat. Doch manchmal sind es die Umwege, die zum Ziel führen.«
Nina hätte jetzt gern eine Zigarette geraucht und rief sich die Stimme des Psychologen in Erinnerung, der den Entwöhnungskurs geleitet hatte.
»Dass wir immer noch kein klares Motiv erkennen, macht die Sache nicht einfacher«, entgegnete sie.
Viken warf ihr einen Blick zu.
»Wie oft gibt es in Mordsachen schon ein klares Motiv?«, gab er zurück.
Sie dachte nach.
»Kommt drauf an, was du als Motiv betrachtest.«
»Bevor ich vor zwanzig Jahren hier angefangen habe, hatte ich es mit Wirtschaftskriminalität zu tun. Mit Bilanzbuchhaltern, die Geld unterschlagen haben, um sich ein Ferienhaus in Spanien leisten zu können. Mit Finanzjongleuren, die ihre Einkünfte verdoppelten, indem sie Insiderinformationen verkauften. Da standen Motiv und Tat immer in einem klaren Zusammenhang. Sie alle waren ein kalkuliertes Risiko eingegangen, hatten eine Kosten-Nutzen-Rechnung vorgenommen. Doch seit ich mich mit Gewaltverbrechen beschäftige, habe ich kaum
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