Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
einmal einen Mord erlebt, bei dem das Motiv klar auf der Hand lag, schon gar nicht, wenn es um vorsätzliche Tötung geht.«
Erneut fiel ihr auf, wie wenig ihn die Grausamkeit zu berühren schien, mit der sie sich befassten. Vermutlich war es diese Fähigkeit zur inneren Distanz, die einen wirklich guten Ermittler ausmachte.
»In Manchester habe ich mich 1998 zum letzten Mal mit einer Mordsache beschäftigt. Damals ging es um Harold Shipman, den Serienmörder.«
»Der Arzt, der so viele seiner Patientinnen umgebracht hat?«
»Es können 15, 250 oder doppelt so viele Opfer gewesen sein – das werden wir nie erfahren. Wie du weißt, hat er sich in seiner Zelle erhängt. Darum werden wir auch nie erfahren, was ihn zum Massenmörder gemacht hat, auch wenn es inzwischen unzählige Bücher über ihn gibt. Nur in wenigen Fällen brachten ihm seine Taten einen bescheidenen finanziellen Gewinn ein. Wer begreifen will, was so einen Menschen antreibt, muss zunächst ein psychologisches Profil von ihm erstellen.«
Als Viken im Dezernat für Gewaltverbrechen einen Vortrag darüber gehalten hatte, waren nicht allzu viele Kollegen erschienen, Nina jedoch schon. Jetzt schaute er sie erwartungsvoll an, als wolle er prüfen, ob sie damals gut zugehört hatte.
»Er hatte offenbar eine Reihe frühkindlicher Schädigungen erlitten«, begann sie zögerlich. »Übergriffe in irgendeiner Form, die später ein extremes Bedürfnis bei ihm auslösten, sich zum Herrn über Leben und Tod zu machen. Und die Kontrolle zu haben, bei anderen unbeschreibliche Schmerzen auszulösen.«
»So weit, so gut«, sagte er und nickte. »Darin war Shipman ein Meister. Dennoch bleiben seine Taten unbegreiflich. Der Kern eines jeden Mordes entzieht sich in gewisser Weise allen Erklärungsversuchen. Wer sich zu sehr auf plausible Motive konzentriert, lässt sich leicht in die Irre führen.«
Nina lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Vikens Hände. Zwar nicht besonders hübsch, dachte sie, aber charakteristisch. Schmal und knochig, mit ungewöhnlich langen Fingern.
»Und deshalb sind wir also auf dem Weg in die tiefen Wälder von Hedmark«, sagte sie und versuchte, die Ironie durch einen kindischen Tonfall zu neutralisieren.
Viken brach in Gelächter aus. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn schon mal so herzhaft lachen gehört zu haben, und war erleichtert, vielleicht auch stolz, dass sie ihn so weit gebracht hatte.
»Du hast die Situation durchschaut«, sagte er, nachdem sein Lachen abrupt aufgehört hatte.
Nina dachte darüber nach.
»Du meinst also, wir sollten lieber gar nicht nach einem Motiv suchen?«
»Ich meine, dass wir uns in dieser Angelegenheit nicht davon leiten lassen sollten. Die Teile werden sich schon nach und nach zusammenfügen. Aber das Puzzle wird niemals vollständig sein. Nicht einmal nach einem vollen Geständnis oder der Behandlung beim Seelenklempner – dann erst recht nicht!«
»Du hörst dich trotzdem optimistisch an«, sagte sie.
Er beschleunigte das Tempo, obwohl sie von der Autobahn abgefahren waren und sich nun auf dem Riksveien befanden, der nur zwei Spuren hatte.
»Ich zweifle keine Sekunde daran, dass wir den Fall irgendwann lösen werden, Nina. Wir jagen einen Täter, der uns schon viel über sich erzählt hat. Die Frage ist, ob wir ihn erwischen, ehe noch mehr passiert.«
Ein paar Kilometer hinter Åmoen kamen sie an ein Schild, auf dem Åheim stand. Sie fuhren von der Landstraße ab und folgten einem Waldweg in nördliche Richtung.
»Meinst du nicht, dass die Leute von der Landschaft geformt werden, in der sie aufwachsen?«, versuchte sich Nina mit Blick auf die dicht stehenden Tannen.
Dazu hatte Viken keine besondere Meinung. Sie passierten eine Abzweigung. Viken hatte gerade Kjell Roar Storaker angerufen, um sich den Weg genau beschreiben zu lassen. Der hatte vorgeschlagen, sie zu begleiten, doch Viken hatte das Angebot abgelehnt. Er wolle keine Einheimischen dabeihaben, erklärte er später. Das wäre eher hinderlich als nützlich.
»Ich könnte niemals an solch einem Ort leben«, sagte Nina mit Nachdruck. »Nach zehn Minuten würde ich Beklemmungen kriegen.«
Viken schwieg. »Um denjenigen zu finden, der diese Morde verübt hat, müssen wir uns an seine Stelle versetzen«, sagte er. »Du darfst dich nicht damit begnügen, rein analytisch vorzugehen. Du musst in gewisser Weise deine eigene Denkweise und deine Moralvorstellungen überwinden, um dich in einen
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