Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
die hier raufzukriegen.«
In gebückter Haltung ging Viken hinein, öffnete eine der Truhen und zog einen gefrorenen Leinensack heraus, den er mit seinem Taschenmesser aufschlitzte.
»Der Kerl hat recht!«, rief er aus, als ein großer, katzenartiger Kopf zum Vorschein kam. »Das ist wirklich ein bisschen problematisch!«
35
Freitag, 19. Oktober
O bwohl Anita Elvestrand den Weinkarton schon in den Küchenschrank zurückgestellt hatte, holte sie ihn nun wieder heraus. Sie hatte die Gläser gezählt, die sie getrunken hatte, war auf fünf gekommen und dachte, dass ihr ein weiteres auch nicht schaden würde. Wein vertrug sie gut. Von Wein wurde sie fröhlich, niemals traurig oder streitsüchtig.
Im Fernsehen lief eine Sendung übers Abnehmen. Der Professor, der stets eine Fliege und ein gestreiftes Jackett trug und aussah wie ein Zirkusdirektor, zog gegen etwas zu Felde, das er Gesundheitstyrannei nannte. Anita gefiel dieser Ausdruck außerordentlich gut. Er war einer der wenigen Experten, bei denen sich das Zuhören noch lohnte. Wein war doch reine Herzmedizin, das hatte die Forschung längst herausgefunden, und selbst der Trottel von Hausarzt, bei dem sie gelandet war, musste das zugeben. Gegen einen Schluck Wein jeden Tag sei nichts einzuwenden, hatte er eingeräumt, doch solle sie es bei einem Glas belassen. Gestern hatte sie keinen Tropfen getrunken, da durfte es heute ruhig etwas mehr sein.
Sie war die Treppe hinaufgegangen und hatte bei Miriam an der Tür geklingelt, wollte sie auf ein Gläschen in ihre Wohnung bitten, doch leider war sie nicht zu Hause. Miriam hatte davon geredet, am Wochenende mit ein paar Freundinnen wegfahren zu wollen, doch Anita hatte natürlich darauf gehofft, dass sie diesen Plan nicht in die Tat umsetzte. Miriam ist der beste Mensch, den ich kenne, dachte sie und leerte ihr Glas. Deshalb wollte Anita sie auch nicht zu oft behelligen, ihr womöglich zur Last fallen. Aber Miriam war niemals abweisend, wenn sie an ihrer Tür klingelte. Gestern hatte sie Besuch, und Anita hatte sofort verstanden, dass es sich um einen Mann handelte. Doch selbst in diesem Moment nahm sich Miriam die Zeit, ein wenig mit ihr auf dem Flur zu plaudern. Ihre Haut war so weich und roch so gut, als sie Miriam umarmte. Später am Abend bestätigte sich ihr Verdacht, dass sie einen Mann zu Besuch hatte. Ihre Wohnung war sehr hellhörig, und Anita hätte schon stocktaub sein müssen, um nicht mitzubekommen, was dort oben vor sich ging. Und nicht nur einmal. Manchmal fragte Anita sich, was für ein Mensch Miriam eigentlich war. Sie wollte Ärztin werden und war stets bemüht, anderen zu helfen. An den Sonntagen besuchte sie mit Nonnen und Mönchen zusammen eine katholische Kirche. Manchmal kam ihr Miriam wie von einer anderen Welt vor. Und gestern hatte sie sich also diesem Mann da oben hingegeben und dabei gestöhnt und geschrien wie jede x-beliebige Schlampe. Auch das war Miriam. Im Grunde hatten ihr die Geräusche aber nichts ausgemacht. Im Gegenteil, sie gönnte Miriam ihr Vergnügen und konnte sich gut in sie hineinversetzen.
Vorhin hatte Miriam kurz bei ihr vorbeigeschaut, und da hatte Anita sie gefragt, ob sie sich einen Freund angelacht habe, denn eigentlich sei sie doch nicht der Typ für einen One-Night-Stand. Nach kurzem Zögern hatte Miriam geantwortet:
»Ich weiß nicht, was daraus wird.«
»Bist du verliebt?«, hatte Anita wissen wollen.
»Mehr als das.«
»Was gibt es dann noch für Schwierigkeiten?«
Sie fragte nicht aus reiner Neugier. Miriam schien es nicht gutzugehen. Sie, die immer so ausgeglichen und fröhlich war, hatte plötzlich dunkle Ringe unter den Augen und einen fast ängstlich flackernden Blick.
»Er würde seine Familie nie verlassen«, sagte sie. »So ein Typ ist er nicht.«
Anita hatte sie gefragt, ob es der Arzt war, bei dem sie ein Praktikum absolviert hatte.
Das hatte Miriam bestätigt.
»Dann solltest du dich vielleicht nicht allzu sehr in die Sache hineinsteigern.«
Miriam starrte eine Weile aus dem Fenster, ehe sie entgegnete:
»Vielleicht ist es deswegen. Weil ich weiß, dass ich ihn nie bekommen kann.«
Anita hatte aufgehört, die Gläser zu zählen. Spielte doch eigentlich keine Rolle. Schließlich hatte sie den ganzen Samstag Zeit, um sich zu erholen. Erst am Sonntag würde sie Victoria abholen, und zwar tipptopp gepflegt und stocknüchtern. Am Samstagabend konnte sie ruhig ausgehen. Wenn sie in der Stadt unterwegs war, trank sie nie viel. Ein ums andere
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