Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
hätte er am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre sofort wieder gegangen. Auf der Beerdigung hatte er ihr in einem Strom von Trauergästen die Hand gedrückt. Ihr Gesicht war grau und starr gewesen, doch als sie begriff, wer ihr die Hand gab, brach sie erneut zusammen und musste von ihrem Mann weggeführt werden. Wenn er sie jetzt ansprach, würde sie vielleicht wieder die Fassung verlieren. Vielleicht würde sie in ihm für alle Zeit denjenigen sehen, der mitten in der Nacht gekommen war, um ihnen die Todesnachricht zu überbringen.
Er stellte sich neben sie. Erst jetzt erkannte sie ihn. Mit gläsernem Blick gab sie ihm die Hand und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Kein Wort kam ihr über die Lippen, doch sie unterdrückte ihre Tränen. Sie hat ihre Trauer eingekapselt, dachte er.
Axel stand im Dunkeln am Ende der Terrasse. Durch die halb geöffnete Tür drangen karibische Rhythmen. Normalerweise liefen sich Bie und er auf solchen Festen nur hin und wieder über den Weg. Sie hatten beide nichts dagegen, den anderen für eine Weile sich selbst zu überlassen. Doch an diesem Abend war sie immer in seiner Nähe. Wollte unbedingt mit ihm tanzen und küsste ihn so hingebungsvoll, dass sie wie ein frisch verliebtes Paar wirken mussten. Eng umschlungen tanzten sie eine Weile miteinander, ehe er sich von ihr löste.
»Was ist mit dir, Axel?«, hatte sie gefragt. Am liebsten hätte er geantwortet: »Irgendwas geschieht mit mir, Bie, und ich weiß nicht, ob ich es aufhalten kann«, doch stattdessen hatte er nur stumm den Kopf geschüttelt. Sie strich ihm zärtlich über den Nacken und sagte, sie könne gut verstehen, dass er müde sei, und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie ihretwegen gern früh nach Hause fahren konnten.
Er trank einen großen Schluck Kognak und ließ die Flüssigkeit in seinem Mund kreisen. Die Terrasse ging nicht nach Westen hinaus wie ihre eigene, sondern nach Norden, und auf der anderen Seite des Fjords konnte er die Stadt sehen: die Festung, das Rathaus, weiter rechts den Carl-Berners-Platz und Rodeløkka. Er glaubte nicht, dass Miriam zu Hause war. Sie hatte davon gesprochen, am Wochenende wegfahren zu wollen. Er fühlte sich erleichtert zu wissen, dass sie sich an irgendeinem Ort befand, an dem er sie nicht erreichen konnte. Wie lange würde es dauern, bis ihr Gesicht in seiner Erinnerung verblasste, wenn er sie nie wieder sah? So musste er sich von nun an verhalten, vollkommen passiv, bis alles endgültig vorbei war.
Der Himmel über ihm war so klar wie schwarzes Glas. Er fand die Zwillinge und blickte zu Auriga und Perseus hinüber, der den Kopf der Medusa in seiner Hand hielt. In den Tagen nach Marlens Geburtstag hatte er ihr immer wieder erzählen müssen, dass der Stern Algol blinke, weil er eigentlich aus zwei Sonnen bestehe, die sich immer wieder übereinanderschieben. Das half. Zumindest traute sie sich wieder, in den nächtlichen Himmel zu schauen. Vor einer Woche hatte sie eine Geschichte geschrieben, die sie ihm vorlas. Sie handelte von einem Astronauten, der dem furchteinflößenden Zwillingsstern Algol – dem Auge der Medusa – so nahe gekommen war, dass er niemals zurückkehren würde. Nun flog er für alle Zeiten als Stein durch den dunklen Kosmos. Auch Geschichten können umeinander kreisen, hatte Axel gedacht, als sie fertig war.
Er leerte sein Kognakglas und musste an einen Zeitungsartikel denken, den er vor einigen Tagen gelesen hatte. Es ging um eine Untersuchung über die Treue italienischer Männer. Diejenigen, die untreu waren, schnitten am besten ab, wenn es um ihre Tauglichkeit als Familienväter ging. Offenbar war es ihr Schuldbewusstsein, das sie zu so guten Vätern machte. Er griff in seine Tasche und holte sein Handy heraus. Schrieb eine SMS: »Schläfst du?«
Als er die Nachricht abschickte, hörte er Schritte auf der Terrasse. Er drehte sich um und erblickte Ingrid Brodahl. Während des Essens hatte sie mehrmals zu ihm herübergeschaut, und so überraschte es ihn nicht, dass sie jetzt den Kontakt zu ihm suchte. Sie hielt ein Glas in der Hand, während eine winzige Handtasche an ihrem Arm baumelte.
»Hier draußen sind Sie also«, sagte sie.
Ihr Kleid schimmerte im Licht des Salons, wenn sie sich bewegte.
»Ich brauchte ein bisschen frische Luft«, entgegnete er. »Haben Sie wieder angefangen zu arbeiten?«
Sie hatte eine hohe Position in irgendeinem Ministerium, vielleicht dem Kulturministerium.
»Am Montag fange ich wieder an. Ich habe nicht
Weitere Kostenlose Bücher