Die Ballade der Lila K
schrie vor lauter Panik. Ich wusste, ich war im Raum mit den zerschlagenen Kacheln, und das erschreckte mich am meisten, mehr als die völlige Finsternis, die mich umgab, mehr als die Wut meiner Mutter und mehr als der Schmerz, der mir die Schulter entzweiriss.
Ich weiß nicht, wie lange ich geweint habe – Kinder haben kein ausgeprägtes Zeitgefühl, was manchmal ein Segen ist. Als ich aufhörte, herrschte absolute Stille. Meine Mutter hatte sich vermutlich wieder hingelegt. Ich schlief auf den Kacheln ein und wachte erst auf, als sie zurückkehrte.
»Na komm, mein Schatz. Es ist vorbei.«
Sie nahm mich hoch und brachte mich ins Zimmer zurück.
»Was ist denn in dich gefahren, meine Kleine?«
Ich schmiegte mich an sie.
»Versprichst du mir, dass du keine so bösen Sachen mehr machst? Ja?«
Ich nickte.
»Sehr schön, meine Kleine!«
Sie drückte mich fester an sich, und der Schmerz lebte jäh wieder auf.
»Was ist denn«, fragte sie und berührte meine Schulter. »Tut dir das weh?«
Ich zog eine Grimasse.
»Du hast dir beim Hinfallen weh getan?«
Ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Sie war sichtlich schockiert.
»Meine arme Kleine, das ist ja schrecklich. Ich werde mich darum kümmern … dich pflegen … aber … nicht jetzt. Ich kann jetzt nicht … Ich muss erst arbeiten. Die letzten Tage ging das nicht. Und jetzt muss ich wirklich.«
Sie lächelte, streichelte mir die Wange.
»Morgen kümmere ich mich nur um dich, versprochen. Morgen habe ich alle Zeit der Welt. Ich hab dich lieb, meine Kleine.«
Um mir Bewegungen zu ersparen, hat sie mich löffelweise gefüttert. Sie war wieder voller Zärtlichkeit und Geduld. Ich schloss die Augen, um diesen Glücksmoment vollständig auszukosten. Danach hat sie mich zum Wandschrank getragen und vorsichtig hingelegt. Gute Nacht, meine Kleine. Ich lächelte, voll freudiger Dankbarkeit über den Schmerz, der meine Mutter so liebevoll stimmte.
Am nächsten Tag hat sie sich nicht um mich gekümmert. Dazu war sie vermutlich nicht imstande. Gegen Abend schob sie die Schranktür ein Stückchen auf, reichte mir eine Dose und eine Flasche Wasser hinein und schob die Tür wieder zu. So hielt sie es auch an den folgenden Tagen. Ich glaube, sie hatte ganz vergessen, dass ich verletzt war.
Als ich eines Morgens das Paneel selbst aufschieben wollte, um mich zu vergewissern, dass sie noch atmete, stellte ich fest, dass es blockiert war. Meine Mutter hatte die Tür offenbar mit einem Karton oder einer Kiste verrammelt. Ich habe zwar versucht, dagegen zu drücken, aber dafür war ich viel zu schwach. Also habe ich in der Stille ausgeharrt und auf irgendein Geräusch gehorcht, ein beliebiges Zeichen, Hauptsache, sie war noch da, in meiner Nähe, und lebte. Irgendwann hörte ich sie im Schlaf leise stöhnen, was mich voll und ganz beruhigte. Danach muss ich ebenfalls eingeschlafen sein.
Ich weiß, dass das keine normale Situation war. Natürlich weiß ich das. Offen gesagt, war ich im Wandschrank aber gar nicht unglücklich. Er war wie ein dichter Kokon. Ich fühlte mich dort sicher. Lag inmitten meiner Plüschtiere einfach reglos da. Es war gemütlich. Die Heizungsrohre, die unter dem Boden verliefen, wärmten den Beton. Ich verbrachte meine Tage dösend oder lauschend. Ihr. Ihrem Atem. Dem Lakenknistern, wenn sie sich manchmal bewegte. Ihren Schritten, wenn sie aufstand. Ich habe mich nie gefürchtet. Feine Lichtstreifen drangen durch die Paneelränder. Das genügte, um mir den Tag anzuzeigen.
Wenn die dünne helle Linie entlang der Kanten verblasste, wusste ich, dass es Abend wurde. Meine liebste Zeit. Dann wurde sie endlich richtig wach, stand auf, zog sich an, um arbeiten zu gehen. Mit dem Ohr an der Tür versuchte ich zu erraten, was sie gerade machte. Nebenan fließt Wasser, sie wäscht sich. Stoffrascheln, sie schlüpft in ihr Kleid. Welches wird es sein? Das rote? Das blaue? Ein anderes, das ich nicht kenne? Klappernde Absätze, sie trägt die hohen Stiefel. Die Schranktür gleitet einen Spaltbreit auf, meine Mutter hinterlegt Dose und Flasche, schließt das Paneel wieder. Die Eingangstür wird zugeknallt, sie ist weg. Ich krabbele auf die Dose zu, stecke die Finger hinein und führe sie dann zum Mund. Ich esse. Ich schlage mir den Bauch voll und denke dabei an meine Mutter. Mein Zustand grenzt an Glückseligkeit. Nachdem ich alles aufgegessen habe, dämmere ich langsam in der Dunkelheit ein, auf dem warmen Beton, vom Gluckern der Rohre gewiegt. Als wäre ich
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