Die Ballade der Lila K
musste ich plötzlich feststellen, dass er andere ebenso liebgewonnen hatte – mindestens eine andere, ihr hatte er Musikunterricht erteilt, ihr hatte er ein Cello geschenkt –, und das machte mir schwer zu schaffen.
In dieser Nacht bin ich voller Groll und Wehmut eingeschlafen, mit dem festen Entschluss, mich nie wieder in Fernands Wohnung blicken zu lassen.
Ich habe die ganze Nacht lang geträumt, von Monsieur Kauffmann, von Lucienne. Wir waren auf dem Dach. Monsieur Kauffmann spielte Cello. Der Boden war von Büchern bedeckt, deren Seiten mit den Klängen aufflogen. Und Lucienne lachte. Ich auch. Am Morgen danach war meine Wut verraucht.
Ich wollte Lucienne nicht hassen, sondern sie nach besten Kräften akzeptieren, so wie ich Fernand akzeptiert hatte, Monsieur Kauffmann zuliebe. Ich wusste, dass die beiden mir helfen würden, die Erinnerung an ihn zu bewahren. Eifersucht wäre fehl am Platz gewesen.
In den folgenden Monaten habe ich Lucienne und Fernand mehrmals besucht. Sie empfing mich stets mit offenen Armen, während sie zugleich darauf achtete, mich nicht zu berühren. Fernand ließ uns oft allein, damit wir uns freier fühlten. Darauf fiel ich nicht herein, denn ich war mir ziemlich sicher, dass er sich im Anschluss die Aufzeichnungen ansah. Lucienne bat mich, ihr zu erzählen, wie mein Alltag im Zentralheim verlief, was ich las, welche Kurse ich belegte. Ich bat sie, für mich Cello zu spielen. Ihre Musik war oft traurig, ohne dass man beim Zuhören selbst traurig wurde.
Wir sprachen niemals über Monsieur Kauffmann. Trotzdem war er bei uns. Wir spürten ihn beide in unserer Mitte, und diese Tatsache hob die Trennung zwischen uns auf.
Mit der Zeit besuchte ich sie immer öfter: zunächst zweimal im Monat, dann dreimal und schließlich jede Woche. Ich hatte keine Angst mehr davor, auf die Straße zu gehen. Ich hatte keine Angst mehr vor der Fahrt. Ich schaffte es sogar, mir durch das hintere Seitenfenster die Stadt anzusehen, die Gebäude, die Straßen, die Leute, die Bäume. Das war ein enormer Fortschritt. Manchmal drehte Fernand mit mir noch eine kleine Runde, nachdem wir aus dem Shuttle gestiegen waren. Höchstens dreißig, vierzig Meter, niemals mehr. Zwar schwitzte ich dabei Blut und Wasser, aber so gewöhnte ich mich allmählich daran.
Die Hausmeisterin des Wohngebäudes war eine mürrische Chimäre von besonders abstoßendem Äußeren. Kaum setzte man einen Fuß in die Eingangshalle, trat sie in Erscheinung, als hätte sie die ganze Zeit Ausschau gehalten oder als verfügte sie über einen sechsten Sinn – bei diesen Kreaturen ist alles denkbar. Sieh sie nach Möglichkeit nicht direkt an , mahnte Fernand. Sie ist sehr reizbar. Ich setzte mir sogleich die Sonnenbrille auf, und wir eilten zum Lift, vom forschenden Blick unserer eigenartigen Gorgone verfolgt.
Sobald ich durch die Tür kam, bereitete mir Pascha einen freudigen Empfang und streifte mir mit seinem buschigen Schwanz um die nackten Waden. Lucienne und Fernand staunten jedes Mal von neuem. Sonst war Pascha eher ein Einzelgänger. Er buhlte nicht gerade um Streicheleinheiten. Nur bei mir verhielt er sich anders. Das schmeichelte mir sehr.
Lucienne schien es besserzugehen. Sie aß mehr, hatte ein bisschen an Gewicht zugelegt. Fernand behauptete, das sei mir zu verdanken. Ich brachte sie oft zum Lachen, meist ohne für mich ersichtlichen Grund, aber das war nicht weiter schlimm, ihr Lachen war nie bösartig, und ich spürte, wie gut es ihr tat.
Im Lauf der Monate wandelte sich Paschas Fell von Mauve zu Zinnoberrot, von Zinnoberrot zu Fuchsienpink, von Fuchsienpink zu Orange, von Orange zu Türkis, von Türkis zu Zitronengelb. Lucienne bekam mehr und mehr Appetit und wurde zusehends runder. Manchmal verkündete sie sogar, sie sei glücklich. Fernands Leben wurde wieder bunter.
Ich veränderte mich auch. Ich bekam Brüste, Hüften, Schamhaare, ohne es richtig zu merken – ich hatte meinem Körper nie viel Beachtung geschenkt. Kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag hat er sich selbst mit Gewalt bemerkbar gemacht. Es ist nicht schön, zur Frau zu werden, weil es mit so viel Dreck verbunden ist.
Ein paar Wochen später erhielt ich meinen ersten Sensor samt einer Tube hypoallergenen Gels. Ein Geschenk des Gesundheitsministeriums. Ich fragte Fernand:
»Muss ich das wirklich benutzen?«
»Aber nein, Lila. Es ist nicht obligatorisch. Die Anwendung wird allerdings empfohlen, zum psychisch-physischen Ausgleich. Sexuelle Bedürfnisse
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