Die Ballade der Lila K
ihr dünnes Händchen reichte, wich ich instinktiv zurück.
»Ich möchte Sie lieber nicht anfassen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Ach ja, Fernand hat es mir gesagt, aber dann habe ich es vergessen. Entschuldige bitte.«
»Das macht doch nichts.«
Sie lächelte mir zu.
»Auf ganz bald, hoffe ich.«
Daraufhin kam Pascha angeschlendert, mit lässig wedelndem leuchtendem Schwanz. Erst sah er mich mit seinen großen nilgrünen Augen an, dann kam er langsam auf mich zu und umstreifte meine Beine. Auf der nackten Haut fühlte sich das ungeheuer weich und seidig an.
»Er scheint dich ins Herz geschlossen zu haben!«, bemerkte Fernand.
Wie zur Bestätigung gab Pascha ein kleines Miau von sich, bevor er wieder zwischen meine Beine schlüpfte und meine Haut prickeln ließ. Das war ein Zeichen, aber das wusste ich damals noch nicht.
Auf dem Heimweg fragte mich Fernand:
»Na? Geht’s dir gut?«
»Ja, danke. Ihre Frau ist nett, aber auch ziemlich seltsam.«
Er lächelte.
»Sie hat sich offensichtlich wirklich gefreut, dich kennenzulernen.«
Ich dachte, dass er mir nun die versprochene Erklärung liefern würde, aber stattdessen blickte er stumm aus dem Fenster und gab vor, die Aussicht zu bewundern. Ich wartete noch ein wenig ab, obwohl ich vor Ungeduld verging, und als dann immer noch nichts kam, sagte ich:
»Wie lange wollen Sie sich eigentlich noch in Schweigen hüllen, Fernand? Es gibt einiges, was wir besprechen sollten, haben Sie das vergessen?«
»Nein, Lila, ich habe es nicht vergessen. Und es ist im Grunde ganz einfach: Lucienne war früher im Zentralheim, wie du. Dort habe ich sie kennengelernt. Damals wurde sie von Monsieur Kauffmann betreut.«
»Lucienne war seine Schülerin!«
»Ich hätte es dir sagen sollen. Es war dumm von mir, das nicht zu tun.«
Diese Neuigkeit hatte mir die Sprache verschlagen.
»Lucienne hatte große Schwierigkeiten. Monsieur Kauffmann hat uns nach Kräften unterstützt. Er setzte Himmel und Hölle in Bewegung, damit sie das Heim verlassen durfte. Ohne seine Fürsprache hätte man sie niemals ziehen lassen.«
»Heißt das, sie wäre im Heim geblieben?«
»Nein … Die Kommission wollte sie in eine psychiatrische Einrichtung verlegen.«
Seine Stimme zitterte, und ich merkte, dass es ihn stärker mitnahm, als er zulassen wollte.
»Man hat sie gehen lassen, aber jetzt fällt es ihr schwer, nicht wahr? Das Leben fällt ihr schwer.«
»Genau so ist es, Lila. Es fällt ihr sehr schwer.«
»Hat Monsieur Kauffmann Sie gebeten, sich um mich zu kümmern, weil ich Lucienne ähnele?«
Fernand schüttelte den Kopf.
»Er hat mich wohl ausgesucht, weil er mich für kompetent hielt. Ich glaube nicht, dass es mit Lucienne zu tun hat.«
Wir hatten unser Ziel erreicht. Fernand stieg als Erster aus und öffnete mir die Tür.
»Du hast freie Bahn. Niemand auf dem Bürgersteig. Los geht’s.«
Ich rannte auf die Schleusentür zu – fünfzehn Schritte, wie beim Rausgehen – und stürmte in die Eingangshalle, während Fernand die Formalitäten am Automaten erledigte. Als er mich eingeholt hatte, fragte er:
»Soll ich dich in dein Zimmer hinaufbegleiten?«
»Nein, ich komm schon klar.«
»Na gut, dann sehen wir uns morgen.«
»Bis morgen, Fernand. Und danke für den Ausflug.«
»Gern geschehen.«
Ich wollte gerade auf den Lift zugehen, als er hinzufügte:
»Du hast das Zimmer gesehen, nicht wahr?«
»Das war keine Absicht.«
»Ich weiß, Lila. Das war auch kein Vorwurf. Aber wenn du es schon gesehen hast, sage ich es dir am besten gleich: Lucienne und ich möchten schon seit langem ein Baby bekommen, vergebens. Darum ist sie so traurig. Ich möchte, dass du es weißt, damit du sie verstehst und Nachsicht mit ihr hast, wenn sie dir … seltsam vorkommt, wie du dich ausgedrückt hast.«
Ich nickte wortlos. Ich dachte an das Zimmer zurück. All diese Hüllen, wie Leichentücher.
»Es tut mir sehr leid für Sie.«
»Noch haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben.«
»Ein Glück … Ich hätte da noch eine Frage, Fernand: dieses Cello …«
»Es gehört Lucienne. Ein Geschenk von Monsieur Kauffmann.«
Dass sie seine Schülerin gewesen war, wühlte mich zutiefst auf, und ich habe sie den ganzen Abend über gehasst. Natürlich wusste ich, dass ich für Monsieur Kauffmann nicht die Einzige gewesen war. Vor mir hatte es noch viele andere gegeben. Aber ich hatte mir immer vorgestellt, ich sei seine Lieblingsschülerin gewesen, weil ich eben so außergewöhnlich war. Nun
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