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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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so durchdringend, dass mich fröstelte. Ich starrte den Bildschirm an.
    »Lila, du musst das nicht tun.«
    »Sie wissen genau, dass ich muss«, sagte ich und klickte das Icon an.
    Die Zentralheimmitarbeiter sind äußerst gewissenhaft. Der Bericht lässt nichts zu wünschen übrig. Es wurde kein Detail ausgelassen: Dehydration, Unterernährung, Krätze, Läuse, Madenwürmer, entzündete Wunde an der Hüfte, Konjunktivitis, alte Brandwunden an beiden Händen, wobei die Narbenbildung zum Zusammenwachsen mehrerer Finger geführt hat, alte konsolidierte Finger- und Claviculafrakturen, Muskelatrophie, Lichtunverträglichkeit und noch viele weitere, mir meist unbekannte Wörter, deren griechische Wurzeln mich jedoch den Sinn erahnen ließen.
    Es gab auch Fotos. Dutzende. Während ich sie der Reihe nach betrachtete, dachte ich unaufhörlich, das bin ich nicht, das bin ich nicht. Das kann ich gar nicht sein. Dabei erinnerte ich mich an die Kamerablitze, die mich zum Schreien gebracht hatten. Ich erinnerte mich an die Brille, die man mir gegeben hatte, um meine Augen zu schützen. Ich wusste, dass es hier um mich ging. Um mein Leben.
    Als ich das Ende der Fotogalerie erreicht hatte, griff ich nach der Tastatur, um wieder von vorn anzufangen. Und dann habe ich sie mir alle noch einmal angesehen. Fernand schaute mir wortlos zu. Als ich Anstalten machte, das Ganze erneut durchzuspielen, legte er seine Hand auf meine und sagte:
    »Hör auf.«
    Es war das erste Mal, dass er es gewagt hatte, mich zu berühren. Wahrscheinlich unbewusst. Oder er hat es im Gegenteil mit Absicht getan, weil er keine andere Möglichkeit sah, mich zum Aufgeben zu bewegen. Ich kramte in meiner Tasche nach der Sonnenbrille.
    »Nein, Lila. Lass das lieber.«
    Ich sah ihn verständnislos an. Er warf einen verstohlenen Blick auf die Spionspiegel. Na klar. Da standen sie alle, auf der anderen Seite, und musterten mein Gesicht, das ihre Kameras in Großaufnahme filmten. Sie wollten nicht die kleinste Regung verpassen. Die Sonnenbrille würde ihnen das Schauspiel verderben, das Ergebnis verfälschen. Aber was erwarteten sie eigentlich? Einen Nervenzusammenbruch, einen Weinkrampf, einen hysterischen Anfall? Kurz hatte ich den Impuls, ihnen genau das zu geben, was sie sich erhofften: ruckartig aufzustehen, das Grammabook vom Tisch zu fegen und auf die Marmorplatten knallen zu lassen und schließlich meinen Stuhl gegen die Spiegel zu schleudern. Ihnen meinen Schmerz ins Gesicht zu spucken wie ekligen Schleim. Mich zu erleichtern. Verdammte Aasgeierbande. Fast hätte ich dem Impuls nachgegeben.
    Aber ich bin ja intelligent – viel intelligenter als der Durchschnitt, wie Sie wissen – und alles andere als blauäugig. Mir war vollkommen klar, dass ich ihnen einen willkommenen Vorwand liefern würde, mich im Zentralheim zu behalten, wenn ich mich dermaßen gehenließe. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, welche Wörter sie diesmal in ihrem Bericht verwenden würden: Emotionales Trauma, ausgelöst durch die Akteneinsicht. Depressive Tendenzen. Psychisch kaum belastbar. Allmählich kannte ich ihren Jargon und ihre Vorgehensweise. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie meine Entlassung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Also habe ich mich zusammengerissen.
    Ich faltete die Hände über dem Bauch, schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und hielt die Luft an, verriegelte gleichsam meinen ganzen Körper. Es sollte ja nichts nach außen dringen. Ich wollte alles schön fest im Inneren verschließen. Ihnen nur ein ausdrucksloses Gesicht, eine stoische Maske bieten. Keine Spur von Furcht zeigen. Oder Schmerz. Es würde kein Spektakel geben.
    Während ich mich darauf konzentrierte, hörte ich Fernand mit leiser, sanfter Stimme sagen:
    »Ich kann gern die Krankenschwester rufen, damit sie dir eine Spritze gibt. Sie ist gleich nebenan. Wir haben sie herbestellt, für den Fall, dass …«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Eine Spritze könnte dir aber darüber hinweghelfen.«
    Wieder schüttelte ich den Kopf. Er ließ das Thema fallen.
    Ich hatte eine Weile mit diesen schrecklichen Enthüllungen zu kämpfen. Ich musste mich damit abfinden, doch zunächst musste ich mich dem Schrecken stellen. Und ihm die Stirn bieten. Ich durfte ihn nicht die Oberhand gewinnen lassen. Als ich die Augen wieder aufschlug, fragte mich Fernand:
    »Kommst du klar?«
    »Einigermaßen.«
    Benommen starrte ich das letzte Foto an, das auf dem Bildschirm angezeigt wurde, darauf war ein Teil vom

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