Die Ballonfahrerin des Königs
flüchtig, dann lenkte sie ihre Schritte in die Richtung ihres Elternhauses.
|295| Das Haus, in dem sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte, war ein einhundertfünfzig Jahre altes, helles Gebäude
mit Schieferdach, nicht breit, doch zweistöckig angelegt. Es besaß weder Innenhof noch einen eigenen Stall, doch die hohen
Fenster wurden von wundervoll gearbeiteten Basreliefs verziert, und im ersten Stock schwebte ein kleiner, schmiedeeiserner
Balkon so anmutig wie venezianische Spitze.
Der Haupteingang bot sich Besuchern über eine breite Treppe an, doch Marie-Provence hielt sich weiter links. Dort, in einem
schmalen, überdachten Gang, war der Durchlass zu den Wirtschaftsräumen. Sie schlug ihren Umhang zurück, schob ihre Kapuze
vom Kopf und überprüfte in einem Taschenspiegel, ob die dick aufgetragene Schminke der Wärme standgehalten hatte. Dann atmete
sie einmal tief ein und aus, hob die Rechte und klopfte an.
Der junge Bursche, der ihr öffnete, machte große Augen.
«Hallo, Hübscher», lächelte Marie-Provence. «Bin ich hier richtig? Wohnt hier der citoyen Cédric Croutignac?»
Der Junge wischte seine Hände voller Schuhwichse an der kurzen Schürze ab. Sein Blick glitt ein paarmal an ihrer grellen Aufmachung
hoch und runter, während seine Gesichtshaut eine gesunde Farbe annahm.
«Wer ist da, Benoît?», fragte eine Stimme in seinem Rücken und schob den Jungen kurzerhand beiseite. Die ältere Frau, die
am Türrahmen erschien, stemmte ihre Fäuste in die kräftigen Hüften. «Ah, so eine schon wieder!», sagte Dorette gedehnt.
«Ich bin geschickt worden», lächelte Marie-Provence und spielte mit der Kordel ihres Umhangs. «Der Herr sagte, ich solle schon
mal reingehen.»
«Ja, ja, er fühlt sich wieder mal einsam.» Dorettes Blick hing abschätzend an Marie-Provence’ Saum, der kurz unter ihrem Knie
endete. «Na, dann komm mal mit nach oben. Ich zeig dir das Zimmer, damit du dich bereitmachen kannst. Aber wehe, du fasst
etwas an, hörst du? Wir haben hier schon ein paar Erfahrungen mit deiner Sorte gemacht, ich lass dich morgen hier nicht raus,
ohne dich zu durchsuchen!»
|296| In der Küche war es heiß. Dorette bereitete offensichtlich gerade das Abendessen vor, und ein munteres Feuer flackerte im
Kamin. Ein Mann sah vom Tisch auf, an dem er gerade zu Abend speiste. Marie-Provence’ Herz schlug schneller. Sie kannte den
Mann – er hatte sie vor einem knappen Jahr mit Auguste von Croutignac weggezerrt. Jetzt würde sich zeigen, was besser funktionierte
– ihre Tarnung oder sein Gedächtnis.
«Na, wen haben wir denn da?», fragte er und verzog das Gesicht. «Hat sich Croutignac im Palais-Égalité wieder mal ein Schwälbchen
gefangen?» Er stand auf. «Lass mal, Dorette, ich bring sie schon.»
«Wird denn dein Essen nicht kalt, Flamin?»
«Ich bin für die Etage zuständig. Du bleibst in der Küche. Das sind die Regeln», verteidigte der Diener seine Privilegien.
Er rülpste und stand auf. Dorette warf Marie-Provence einen Blick zu, zuckte dann aber mit den Schultern. Sie musste nachgeben,
wollte sie keinen Verdacht erwecken.
Kurz darauf wies Flamin Marie-Provence in Croutignacs Zimmer.
«Da drüben steht Waschzeug. Der Alte mag es, wenn die Mädchen sauber sind. Und schrubb dir auch das Gesicht. Das ganze Zeug
da ziehst du vorher aus und legst es in diese Truhe. Er will euch nackt und bereit in den angewärmten Laken.»
Marie-Provence zog ihren Umhang von den Schultern und hing ihn an einen Haken an der Tür. Kurz berührten ihre Finger den grünseidenen
Morgenmantel, der dort hing. Ein Stich durchfuhr ihr Herz, und die alte Wut flammte kurz in ihr auf. Sie trat zurück und tat,
als würde sie sich neugierig in dem ihr nur allzu bekannten Zimmer umsehen, während sie darauf wartete, dass Flamin ging.
Dieser machte allerdings keine Anstalten dazu. Seine Blicke klebten an ihrer aufreizenden Aufmachung.
«Hast du nichts zu tun?», fragte sie frech.
Er schüttelte den Kopf. «Wie kommt eigentlich so ein hübsches Ding wie du dazu, sich so einem hinzugeben?»
|297| Marie-Provence stieß einen inneren Seufzer aus. Sie hatte wahrlich keine Zeit, Grundsatzdiskussionen zu führen. «Ich brauch
das Geld», sagte sie knapp. «Zufrieden? So, und jetzt lass mich allein.»
«Wie viel ist das denn so?»
Marie-Provence kreuzte wortlos die Arme über der Brust.
«Weißt du überhaupt, wie der Kerl aussieht?», fuhr Flamin eifrig fort.
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