Die Ballonfahrerin des Königs
Dann warf sie den Deckel auf die Kiste zurück.
Den Arm beladen mit Papieren, schlich sie sich aus dem Zimmer, das sie eiligst verschloss. Unten ging die Haustür auf.
Der Umhang!
Marie-Provence stürmte in Croutignacs Schlafzimmer und griff zu dem schützenden Kleidungsstück, das sie sich kurzerhand über
die Schultern warf. Dabei streiften ihre Finger erneut den Hausmantel, der an der Tür hing. Sie biss sich auf die Lippen.
Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie riss den grünen Seidenmantel vom Haken und presste ihn sich an die Brust. Beladen mit
ihrer Beute gelangte sie auf den Flur.
Unten stand bereits Croutignac und ließ sich den Gehrock abnehmen. «Mädchen? Was für ein Mädchen? Ich habe kein Mädchen hierhergeschickt!
Wo ist sie? Habt ihr sie etwa da oben allein gelassen?»
Marie-Provence lief nach rechts, zu der Dienstbotentreppe. Sie raste die Stufen hinunter, ängstlich darauf bedacht, sich weder
in ihrem überlangen Mantel zu verfangen |302| noch eines der kostbaren Papiere zu verlieren. Sie warf die Küchentür auf – und starrte direkt in Croutignacs Gesicht.
«Du schon wieder?», schrie Croutignac.
Marie-Provence machte auf dem Absatz kehrt, doch da hatte er bereits ihren Arm geschnappt.
«Diesmal entkommst du mir nicht!», rief er. «Auguste!»
Marie-Provence wehrte sich nach Kräften, aber sie war von ihrer Beute behindert, und er schleifte sie mühelos hinter sich
her, bis vor den Kamin. Dort blieb er stehen. Seine Augen, von den dicken Brillengläsern geschrumpft, starrten sie durchdringend
an.
«Was hast du hier gewollt?»
Marie-Provence presste ihre Lippen fest aufeinander und drückte die Dokumente an ihr rasendes Herz.
«Was versteckst du da unter deinem Umhang?»
«Wollen Sie es sehen?» Marie-Provence warf ihm den seidenen Hausmantel vor die Füße. In dem Augenblick, da seine Augen sich
überrascht weiteten, schlug sie auf die Hand, die sie gefangen hielt. Eine Sekunde lang war sie frei – dann wurde sie herumgeschleudert.
Sie riss unwillkürlich die Arme hoch, um den Aufprall gegen die Wand abzufedern. Dabei ließ sie die Schriftstücke los.
«Ah! Auguste, halt sie! Flamin, hilf ihm! Und nehmt euch in acht vor ihr! Lasst sie nicht wieder entkommen!» Croutignac kniete
nieder und raffte die Dokumente zusammen.
Da ertönte eine Stimme im Raum. «Lasst sie los, ihr beiden! Auf der Stelle!»
Marie-Provence, Croutignac und die beiden Diener schossen herum.
«Serdaine!», entfuhr es Croutignac in einem Ton, der nichts als Hass verriet.
In der Tat: Die Außentür zum Dienstboten-Eingang stand offen, Assmendis Gestalt hob sich im Türrahmen ab, und vor ihm stand
Guy de Serdaine. Er hielt die drohende Mündung zweier Pistolen auf die Männer, die seine Tochter gefangen hielten.
|303| «Er hat mir die Dokumente abgenommen!», rief Marie-Provence.
«Geben Sie sie ihr zurück, Croutignac!», befahl Guy de Serdaine. «Und ihr zwei anderen, lasst sie endlich los! Ich zähle bis
drei: eins, zwei …»
Croutignacs Blick flog zwischen Marie-Provence, seinen Dienern und der Tür hin und her. Auf einmal verhärtete Entschlossenheit
seine Züge. Er sprang zur Seite …
«Der Kamin!», schrie Marie-Provence, doch zu spät.
Croutignac schleuderte die Papiere ins Feuer.
Marie-Provence entfuhr ein entsetzter Schrei, als die Flammen über dem Plan des Temple zusammenschlugen und ihn in ein kleines
Häufchen Asche verwandelten.
|304| 10. KAPITEL
Vendémiaire – Frimaire, Jahr III
September – November 1794
Es ist meine Schuld. Ich habe gewusst, wie dreist sie ist.
Cédric Croutignac hockte vor einer geöffneten Kiste und blätterte den verbliebenen Inhalt durch. Es fiel ihm schwer, sich
zu konzentrieren, dafür war der Schock zu groß. Aber er musste es herausbekommen. Was hat sie hier gewollt? Warum hat sie
so viele Dokumente mitgenommen? War es, um ihre Spuren zu verwischen? Wurde sie gestört?
Ungeduldig überflog er die Liste, die er einst angefertigt hatte, und verglich sie mit dem, was noch vorhanden war. Als er
damals einen Teil der Archive der Bastille mitgenommen hatte, hatte er einem Trieb gehorcht, der schon fast ein Zwang war:
Wenn er in die Lage geriet, an eine Information zu kommen, musste er diese Information auch haben. Diesem Trieb verdankte
er seine ganze Karriere. Schon als Kind war es so gewesen: Er liebte es, vor Weihnachten in den Schränken seines Elternhauses
zu kramen, um Geheimnisse
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