Die Ballonfahrerin des Königs
diese Leute überhaupt, die Marie-Provence umringt hatten? Ihre Stimmen waren voller Angst gewesen.
Ob sie hier wohnten? In diesem kahlen Schloss, in diesen lächerlichen alten Kleidern? War das die Möglichkeit? Und wenn ja,
wie lange schon?
Und Marie-Provence? Das ihm so fremde, puppenhaft geschminkte Gesicht erschien vor seinen Augen. Die Tochter des chevalier
de Serdaine!
Nachdenklich sackte er auf den Hosenboden. Was bedeutete die Entdeckung ihrer wahren Identität für ihn? Und was würde es zwischen
ihr und ihm ändern? Sorge und Angst wallten in ihm auf. Sorge um sie, weil sie in einem gefährlichen Doppelleben gefangen
war. Und Angst davor, dass plötzlich unüberwindbare Hindernisse zwischen Marie-Provence und ihm lagen. Ob dieser Serdaine
einen Levallois als Schwiegersohn akzeptieren würde? Was seine Eltern dazu sagen würden, wenn er ihnen eine verfolgte Adelige
vorstellte, konnte er sich denken – von seinem Bruder Mars ganz zu schweigen.
André raufte seine Haare. Er sprang auf. Genug. Er würde ein Problem nach dem anderen anpacken. Und das Erste, um das er sich
zu kümmern hatte, war, aus seinem Gefängnis auszubrechen und möglichst schnell diesen Menschen zu entkommen, die nichts Gutes
mit ihm im Schilde führten. Er griff erneut nach seinem Lämpchen und suchte sein Gefängnis ringsum ab. Leere. Nichts als nackte
Steinquader, bezogen mit einer Salpeterschicht. Kurz durchwühlte er das Gerümpel. Vielleicht ließe sich eine Leiter aus diesen
Trümmern herstellen, mit der er an die Klappe – nein. Es war nichts Brauchbares dabei.
André überlegte und rief sich die Örtlichkeiten in Erinnerung, durch die er vorhin gekommen war. Das Kellerloch musste sich
in unmittelbarer Nähe der Treppe befinden, die ihn aus dem unterirdischen Gang geführt hatte. Aber in welcher Richtung? Langsam
drehte er sich um die eigene Achse. Dann nahm er eine Latte, die herumlag, und klopfte an die Wand. Machte einen kleinen Schritt
zur Seite, setzte erneut |181| an. Nach drei Versuchen hatte er gefunden, was er suchte: Ein helles Geräusch bestätigte ihm, dass auf der anderen Seite der
Steine ein Hohlraum war. Höchstwahrscheinlich die Treppe.
Er warf die Latte weg und kniete vor der Wand nieder. Gespannt begann er, die Quader und ihre Fugen einzeln zu untersuchen.
Er war schließlich in einem Schloss, und in Schlössern gab es stets Geheimgänge und verborgene Türen. Maisons machte da keine
Ausnahme – der Gang nach Sartrouville bewies es. Ob es hier einen Durchlass zu diesem Gang gab?
***
«Clément, Sie sind dran!» Monsieur de Vezon rieb sich das Kreuz und stöhnte. Blasser Dunst trat aus seinem Mund. Er streckte
dem beleibten Händler seine verschmierte Schaufel hin.
Clément sah an sich hinab. «Verzeihen Sie, Monsieur, aber ich halte doch schon die Laterne. Außerdem kann ich unmöglich in
dieser Jacke …»
«Dann ziehen Sie sie aus. Wenn Sie glauben, Sie können sich ebenso vor dieser Arbeit drücken wie vor Ihrem Beitrag zu den
Essenskosten, haben Sie sich geirrt!»
Clément verschluckte etwas feuchte Luft. Er sah sich hilfesuchend im fensterlosen Raum um, einem der unzähligen Keller des
Schlosses, und wandte sich dann an Marie-Provence’ Vater. «Haben Sie das gehört, Monsieur le Chevalier? Muss ich mir diese
Beleidigungen gefallen lassen?»
«Müssen Sie nicht», antwortete Guy de Serdaine trocken, während er eine große Schaufel voll nasser Erde hinter sich kippte.
«Sie müssen nur die Laterne hinstellen und graben. Keiner der Männer ist vom Dienst enthoben.»
Marie-Provence, die den Geizkragen Clément schon lange unter Verdacht hatte, insgeheim Geld zu horten, sah mit einem Gefühl
leisen Triumphes den Händler zur Schaufel greifen. Er verzog angewidert das Gesicht, während er halbherzig |182| in einen Erdklumpen stieß. Marie-Provence trat näher. «Vater?»
Er sah sich zu ihr um. «Du brauchst hier nicht zu warten, Liebes. Wir rufen euch, wenn es so weit ist und das Grab breit genug,
um Constantin hineinzulegen.» Er warf einen Blick auf die Seite, wo der Leichnam von Marie-Provence’ Onkel lag, eingewickelt
in ein Laken und auf die Tür geschnürt.
Erneut überkam Marie-Provence Trauer. Sie hätte es oncle Constantin von Herzen gegönnt, einmal noch als freier Mann durch
Paris zu laufen. Jetzt würde er für immer hier unten bleiben, in diesem letzten Keller am Ende des Ganges, ohne Sarg. Wie
schnell der Tod ihn doch
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