Die Ballonfahrerin des Königs
Qualität seiner
Kleidung sehen konnte. Also haben er und seine Familie sich mit der Revolution und den neuen Machthabern arrangiert, unterstützen
vielleicht sogar diese Mörder! Ist es nicht so?»
Marie-Provence konnte nicht umhin, an Andrés Bruder Mars zu denken − und an die Flugblätter, die sie im Auftrag des Sicherheitsausschusses
verteilt hatte. Umso heftiger |185| widersprach sie: «Vater, du hast selbst einmal an die neuen Ideen geglaubt! Du hast mir davon erzählt, weißt du noch? Als
alles anfing!» Sie streckte ihm die Hände entgegen. «Du warst dafür, die Privilegien des Adels abzuschaffen, und du hast Mutter
und mir begeistert die Erklärung der Menschenrechte vorgelesen! Ich habe dich mit einer Kokarde auf der Brust gesehen!»
«Ja, du hast recht. Alles, was du sagst, stimmt. Und dann haben sie den König auf dem Weg nach Varennes wie einen gemeinen
Verbrecher verhaftet und zurück nach Paris gezerrt. Ihn und seine Familie haben sie im Gefängnis gedemütigt bis aufs Blut.
Dann haben sie ihn geköpft. Und deine Mutter gleich dazu. Du hast den Brief der Königin gelesen, Marie-Provence! Du hast mir
erzählt, was sie dem Kind antun! Wie kannst du da mit solchen Menschen verkehren?»
«Wir sind nicht besser als sie, wenn wir André töten! Unser Stand wird ausgerottet, weil er ein kleines ‹de› vor seine Namen
schreibt, und du verurteilst André, weil er ein Bürgerlicher ist. Wo ist da der Unterschied?»
«Ich verurteile ihn nicht, weil er ein Bürgerlicher ist! Dieser Mann gefährdet unser aller Existenz hier!»
«Vater, ich weiß, du bist ein ehrlicher Mann, und du wirst auf meine Frage mit der Wahrheit antworten: Wenn André von Adel
wäre und er dir bei seiner Ehre und seinem Namen schwören würde, uns nicht zu verraten – würdest du ihm dann nicht trauen?
Ist es nicht nur seine Zugehörigkeit zu einem anderen Stand, die dich von vornherein an seiner Lauterkeit zweifeln lässt?»
«Weil man diesen Menschen nicht trauen kann!»
«Das ist ein Vorurteil!»
«Das ist Erfahrung!»
«Und Rache?», schrie Marie-Provence.
«Ja, und Rache!», brüllte ihr Vater. «Ich habe schon deine Mutter verloren. Ich werde nicht zulassen, dass irgendein dahergelaufener
Kerl mir auch noch meine Tochter wegnimmt!» Er strich sich die verschwitzten Haare aus der Stirn. Dann ergriff er Marie-Provence’
Arm und deutete in Richtung der |186| anderen. «Hör zu, wenn du schon nicht an dich denkst: Ich werde dir erzählen, was mit diesen drei Männern geschieht, wenn
sie verhaftet werden. Clément hat den Hof früher mit Federn beliefert. Er war einmal sehr reich und kein besonders nachsichtiger
Vorgesetzter. Einer seiner früheren Angestellten ist Gerichtsschreiber beim tribunal révolutionnaire. Wie, glaubst du, wird
Cléments Urteil lauten?»
Marie-Provence wand sich, doch ihr Vater fuhr unerbittlich fort: «Dann haben wir da Honoré de Vezon. Er hatte ein ruhiges,
beschauliches Leben und überließ es seiner Frau, sein Geld auszugeben. Als dem König der Prozess gemacht wurde, spielte Vezon
den Zyniker, doch im Grunde seines Herzens ist er ein Idealist und ein weichherziger Narr. Er schrieb an die convention und
schlug vor, die Verteidigung des Königs zu übernehmen. Er ist nicht der Einzige in diesem Land, der sich als Verteidiger anbot.
Aber einer der ganz wenigen, der sein Engagement für den König bis heute überlebt hat.» Guy de Serdaine lächelte gequält.
«Barthélémy d’If ist ein Priester. Soll ich dir erzählen, was mit den Männern und Frauen passiert, die ihr Leben Gott verschrieben
haben?»
«Nein!», schluchzte Marie-Provence auf. «Das brauchst du nicht! Ich habe die Guillotine gesehen! Ich kenne den Geruch, den
der Rote Wagen verströmt, wenn er an einem vorbeizieht. Ich weiß das alles, ich erlebe es Tag für Tag!» Sie schlug die Hände
vor ihr Gesicht.
Auf einmal war ihr Vater ganz ruhig. «Ja, ma chérie. Du kennst das alles. Du hast das alles gesehen. Du warst auf dich allein
gestellt und hast Sachen erlebt, die du nie hättest erleben dürfen. Aber jetzt bin ich da.» Er drückte ihre Schulter, so fest,
dass es schmerzte. «Ich werde dich zu schützen wissen. Zur Not auch gegen dich selbst.»
***
Kritisch betrachtete André das graue Häufchen, das auf der Porzellanscherbe in seiner Hand lag. Sehr viel war es nicht, was
die Mauer hergegeben hatte. Er hatte keine Ahnung, wie |187| viel er von der Mischung herstellen
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