Die Bank
hole Luft und blase sie rasch aus. Eine Wolke winziger Bläschen schießt aus dem Regulator. Von jetzt an atme ich kurz und zögernd, aber es funktioniert trotzdem.
Gillian tippt mir heftig auf die Schulter. Ich hebe den Kopf und nehme das Mundstück heraus.
»Fertig für das Quiz?« fragt sie.
Ich nicke.
»Okay, solltest du die Orientierung verlieren, folge den Luftblasen. Sie führen dich immer an die Oberfläche. Zweitens, vergiß nicht, auf deine Ohren zu achten, bevor wir runtergehen. Du willst ja wohl nicht, daß dein Trommelfell reißt.«
Ich halte mir die Nase zu und mache eine Trockenübung.
»Drittens, was das wichtigste ist, wenn du wieder an die Oberfläche zurückgehst, atme weiter. Du wirst versucht sein, den Atem anzuhalten, aber dagegen mußt du ankämpfen.«
»Was meinst du damit?«
»Das ist ein menschlicher Instinkt. Du bist unter Wasser. Du wirst Panik bekommen. Als erstes wirst du den Atem anhalten. Aber wenn du hochkommst und nicht ein- und ausatmest, platzen deine Lungen wie ein Luftballon.« Sie setzt ihre Maske wieder auf und unterzieht mich einer kurzen, abschließenden Musterung. »Alles bereit?«
Erneut nicke ich, aber ich bin vollkommen auf ein Bild fixiert: Meine Lungen werden wie ein Luftballon platzen! Unter Wasser paddle ich heftig mit den Füßen.
»Was ist?« fragt sie »Hast du Angst?«
»Willst du mir sagen, daß ich keine haben müßte?«
»Ich will dir gar nichts sagen. Wenn du kneifen willst, ist das deine Entscheidung.«
»Es geht nicht ums Kneifen …«
»Ach, wirklich nicht?« Sie klingt verärgert. »Warum benimmst du dich dann plötzlich wie ein Landei?«
Die Frage bohrt sich wie ein Korkenzieher in meine Brust. Den Tonfall habe ich bei ihr noch nie gehört.
»Hör zu«, sage ich zu ihr. »Ich gebe hier mein Bestes. Jeder andere würde dich allein tauchen lassen.«
»Na klar …«
»Glaubst du, ich mache Witze? Nenne mir eine Person, die einen Tauchanzug anziehen, in einen eiskalten Ozean springen und für eine billige Sensation ihr Leben um vier Uhr morgens riskieren würde?«
»Dein Bruder!« erwidert sie und starrt mich einen Moment an. Noch bevor ich reagieren kann, schiebt sie sich das Mundstück zwischen die Zähne und schnappt sich den Schlauch, der auf ihrer linken Schulter liegt. Sie hebt ihn über den Kopf und drückt den Knopf am Ende. Ein Zischen durchdringt die Stille. Während ihre Weste zusammenfällt, sinkt sie langsam nach unten ins Wasser.
Ich schiebe mir mein Mundstück zwischen die Zähne, hebe den Schlauch und drücke auf den Knopf. Die Weste lockert sich sogleich, und das Wasser reicht binnen Sekunden bis an mein Kinn.
Gillian nimmt noch einmal das Mundstück heraus. »Du wirst es nicht bereuen, Oliver!« ruft sie. »Hinterher wirst du mir dafür danken.«
Ich schüttele den Kopf und tue, als würde ich ihren plötzlichen Enthusiasmus ignorieren. Als das schwarze Wasser gegen meine Wangen schlägt, wird mir schlagartig klar, daß ich ihr nie verraten habe, daß mein wirklicher Name Oliver lautet.
47. Kapitel
Um drei Uhr morgens blockierte Joeys Wagen den Feuerhydranten vor dem Haus von Maggie Caruso. Joey hatte sich eingeredet, daß sie nicht einschlafen würde. Um halb vier kurbelte sie das Fenster herunter, damit die Kälte sie wach hielt. Um vier sackte ihr der Kopf weg. Um halb fünf fiel er gegen ihre Kopfstütze. Und um genau zehn vor fünf riß ein hohes, schrilles Pfeifen sie aus dem Schlaf.
Sie begrüßte die Welt, die rings um sie allmählich erwachte, mit einem kurzen Zwinkern und suchte dann die Quelle des Geräuschs. Es kam von dem aufleuchtenden Bildschirm ihres globalen Positionierungssystems. Das hellblaue Dreieck bewegte sich wieder über die digitale Landkarte, und zwar geradewegs über den West Side Highway. Joey stellte den Bildschirm auf ihren Schoß und sah, wie sich Gallos Wagen den Weg zum Rand der Stadt bahnte. Es war wie in einem primitiven Videospiel, über das sie keine Kontrolle besaß. Zuerst dachte sie, der Agent würde sich Richtung Brooklyn halten, aber als er an der Zufahrt zur Brücke vorbeifuhr und statt dessen auf den Franklin Delano Roosevelt Drive einbog, fühlte Joey ein heißes Brennen in ihrem Nacken. Um diese späte frühe Stunde gab es nur wenige Orte, zu denen ein Geheimagent fahren konnte. O nein, sag bloß nicht, daß sie …
Das winzige Dreieck fuhr auf die 59th Street Bridge, und als Joey sah, daß es sich in Richtung Grand Central Parkway bewegte, drehte sie den
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