Die Bankerin
Treppe, der dünne, noch feuchte Streifen an der maroden Wand zeugte davon, daß das verursachende Schwein weiter oben gestanden und gepinkelt hatte. David übersprang drei Stufen freihändig, er hatte sich schon lange abgewöhnt, das verseuchte Geländer anzufassen, und die Türklinken berührte er nur mit den Fingerspitzen. Er mußte grinsen, wenn er sich Schneidervorstellte, wie der vielleicht aus Versehen mit seinen Fünfhundert-Mark-Schuhen in die Lache getreten war. Schneider, dieser Idiot, der auch nur Reden schwang, vor allem sonntags, aber unter der Woche sich in nichts von anderen Menschen unterschied. Der einer alten Schwester für eine Heimfahrt in seiner Luxuskarosse auch noch Benzingeld abknöpfte, wobei er selbst bestimmt nicht einmal wußte, wieviel Geld er überhaupt besaß. Sollte er sich doch seine Anteilnahme in die Sitze seines Mercedes schmieren!
Der Spielplatz lag um diese Zeit zum größten Teil im Schatten, Mütter saßen auf den umliegenden Bänken, ein paar Kinderwagen bewegten sich leicht und schaukelnd, Kinder quietschten vergnügt, eine friedliche Runde. David stieg in seinen Wagen und fuhr los. Es war bereits Viertel vor sechs. Thomas hatte Gesellschaft bekommen. Ein ebenfalls junger Mann, multiple Sklerose, lag ausgestreckt auf dem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Thomas saß im Rollstuhl am Fenster, wie immer, wenn David kam.
»Hallo, wie geht’s?« fragte David und faßte ihn an der Schulter.
»Ganz gut. Und bei euch? Kannst du dich bitte etwas weiter nach links stellen, damit ich dich besser sehe?«
»Deine Mutter, Nathalie und Maximilian sind für die nächsten drei Wochen an der Ostsee. Ich soll dir schöne Grüße von ihnen bestellen.« Er verriet Thomas nicht den wahren, schrecklichen Grund für die Reise. Es hätte sein Gewissen nur noch mehr belastet.
»Sie haben es noch immer nicht geschafft«, sagte Thomas ruhig, »aber der Arzt möchte dich sprechen.«
»Was will er?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Ist er noch da?«
»Er hat bis acht Dienst, du brauchst nur die Schwester zu fragen.«
Es waren Belanglosigkeiten, die der Arzt von sich gab. Diegleichen leeren Reden wie jedesmal. Thomas’ Unterbewußtsein würde sich wehren, wahrscheinlich aus Angst vor der Wahrheit, die bei einer Hypnose ans Tageslicht käme. Anders könne er es sich nicht vorstellen. David hörte zu, und als der Arzt geendet hatte, sagte er artig danke und ging zurück zu Thomas. Er blieb anderthalb Stunden, ab sieben blickte er mit zunehmender Nervosität ständig auf die Uhr, die innere Anspannung stieg wieder.
Montag, 20.00 Uhr
»Wir gehen heute abend ins Kino«, sagte David zu Nicole.
»Ich habe es Esther versprochen, auch wenn ich von diesen neumodischen Filmen nicht viel halte.« Neumodischer Kram, neumodische Filme, alles Neumodische hatte ihm nie soviel bedeutet wie jetzt!
Sie zuckte nur mit den Schultern und meinte: »Eigentlich hatte ich mich innerlich auf einen gemütlichen Abend zu dritt eingestellt, doch Esther hat schon angedeutet, daß heute Kinotag ist.«
Esther trug ein knallrotes Top und weiße Shorts, die ihre schlanken, braunen Beine besonders vorteilhaft zur Geltung brachten. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Lippen dezent angemalt, ihre braunen Wangen schienen leicht zu glühen, als David eintrat. Sie kaute Kaugummi und strahlte David an, doch so, daß Nicole dieses Strahlen nicht sehen konnte. Wer weiß, auf welch dumme und gefährliche Gedanken sie gekommen wäre!
Im Auto und außer Sichtweite von Nicole, die auf dem Balkon stand und ihnen nachwinkte, küßten sie sich, und dieganze Fahrt über hielt David Esthers Hand (bis vor kurzem war dies allein Johanna vorbehalten!), sie sprachen nicht. Erst mitten in der Stadt fragte Esther: »Ich habe keine Lust auf Kino, ich würde mich viel lieber irgendwo hinsetzen oder spazierengehen. Können wir nicht in den Taunus fahren?«
»Du hörst dich etwas melancholisch an«, sagte David und lenkte den Wagen durch den lichter werdenden Abendverkehr, die grüne Welle bescherte ihnen freie Fahrt.
»Es ist nichts. Ich mache mir nur Gedanken.«
»Und worüber?«
»Du weißt es doch genau. Es ist Wahnsinn.«
»Natürlich ist es das! Aber ist nicht das ganze Leben, diese ganze Welt ein großer Wahnsinn?«
»Nicole wird uns beide lynchen, wenn sie es erfährt. Nicht, weil du mit mir etwas angefangen hast, das wäre ihr im Prinzip schnurzegal, sondern weil sie es nie hinnehmen würde, daß du
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