Die Begnadigung
Coffein, und Ihr Herz ist sowieso schon … Nein, er sagte es nicht.
Er nahm seine Aktentasche wieder vom Stuhl, verabschiedete sich höflich wie immer und fuhr zum nächsten Hausbesuch.
Bei einem alten Bauern fand er ihn, den Handzettel. Er lag neben dem Herd bei dem Papier zum Feuermachen. Hansen hob ihn auf und fuhr ein paarmal mit der Hand über die Vorder- und Rückseite, um ihn zu glätten.
Es war ein Merkblatt für Gesunde und Kranke, es konnte vom Gesundheitsamt herausgegeben sein. Und der letzte fettgedruckte Satz weckte Hansens Mißtrauen: »Auch bei Krebsverdacht gehen Sie immer zum Facharzt. In diesem Falle sind es die großen Kliniken, die mit den modernsten Mitteln, den besten Operationsmethoden, den wirksamsten Bestrahlungsapparaten den Krebs besiegen können …«
Hansen zeigte den Handzettel dem alten Bauern. Er lag im Bett, hatte eine schwere Angina und wälzte sich schwitzend in seinem heißen, wie ein Backofen dampfenden Alkoven.
»Woher haben Sie das, Vater Kölle?«
»Das? Weiß nicht. Alle haben das bekommen.«
»Darf ich es mitnehmen?«
»Wenn's Sie interessiert, Herr Doktor. Ich hab's nicht gelesen. Ist's 'ne Reklame?«
Hansen lächelte bitter. »So kann man es auch nennen, Vater Kölle.« Er deckte den Alten zu, schüttete zwei Pillen aus einem Röhrchen in ein Glas, füllte Wasser darauf, ließ die Pillen zerfallen, stützte den Kopf des alten Kölle und hielt ihm das Glas an die Lippen. »Komm, nun trink. Und dann schwitz weiter. Durch die Haut gehen viele Teufeleien des Körpers weg. Am Samstag kannst du wieder in den Stall.«
Der alte Kölle schluckte das Zeug hinunter und legte sich wieder zurück.
»Was macht denn unser Sauermilchreiter?«
»Der ist wieder in Dänemark.«
»Und der hatte wirklich Krebs?«
»Ja.«
»Daß wir Sie haben, Doktor …«, sagte Kölle zufrieden.
Am späten Abend wurde Dr. Hansen wieder zu dem alten Kölle gerufen. Nachbarn standen an seinem Bett. Hansen kannte sie alle. Stumm machten sie Platz, als er ins Zimmer kam. Der Alte lag auf dem Rücken, die Hände über dem Bauch gefaltet. Dr. Hansen brauchte nicht zu fragen. Er beugte sich über den Toten, hob die Augenlieder und bemerkte eine Verzerrung der rechten Gesichtshälfte. Gehirnschlag. Mit dreiundsiebzig Jahren und Kölles Blutdruck kann man so etwas erwarten.
Als Hansen sich aufrichtete, bemerkte er, daß die Nachbarn ihn ansahen, als habe er Kölle auf dem Gewissen. In ihren Mienen erkannte er plötzlich Abweisung, offene Kritik, Mißtrauen.
»Könnt ihr mir vielleicht sagen, was mit euch los ist?« fragte Hansen.
Der Nachbar von gegenüber antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Ich hab' es dem Kölle immer gesagt: Geh zum Facharzt …«
Stumm füllte Dr. Hansen den Totenschein aus, legte ihn auf den Tisch unter die Lampe, nahm seine Tasche und verließ durch ein Spalier schweigender Männer das Haus. Erst, als er die Tür hinter sich zuzog, begann das Tuscheln wieder.
Hansen fuhr langsam durch die Nacht nach Hause. Mitten in den Feldern hielt er, knipste die Innenbeleuchtung des Wagens an und las noch einmal den Handzettel durch. Alles klang sachlich richtig, wie in einer populären Aufklärungsschrift, und trotzdem wußte Hansen, daß der Text gegen ihn gerichtet war. Ganz klein, entdeckte er jetzt, war am unteren Rand der Rückseite die Druckerei angegeben. Und die Druckauflage. Fünftausend. Wer hatte ein Interesse daran, Dr. Hansen fünftausendmal ins Gesicht zu schlagen?
Karin war noch wach, als er heimkam. Sie hörte ihn den Wagen in die Garage fahren und dann in der Küche hantieren. Er schrak zusammen, als sie ihm die Arme um den Hals legte und ihren Kopf an seine Wange drückte. Er las wieder den Handzettel.
»Komm schlafen«, sagte sie leise. Sie nahm ihm das Blatt aus der Hand. »Es ist doch alles dummes Zeug, was da steht.«
»Was steckt dahinter?« Hansen stützte den Kopf in beide Hände. »Wer kann daran interessiert sein, das Vertrauen meiner Patienten so systematisch zu untergraben? Ich habe es eben wieder gespürt … der alte Kölle ist gestorben. Gehirnschlag. Und die Nachbarn standen wie eine Mauer vor seinem Bett, als wollten sie Gericht über mich sitzen!«
»Komm …« Karin faßte ihn unter und führte ihn wie einen kleinen Jungen ins Schlafzimmer.
Er saß dann auf der Bettkante und starrte vor sich hin.
»Daß sie mich angreifen, das kümmert mich nicht«, sagte er leise. »Aber daß sie meine Patienten aufhetzen, daß sie die Unwissenden mit
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