Die Begnadigung
angetan, unsere eigenen Ansichten zu widerlegen. Der Ruf unserer Klinik …«
»Sie sind ein Lügner!« sagte Svensson laut, aber so sachlich, daß Runkel von seinem Sessel emporschoß.
»Bitte – verlassen Sie sofort mein Zimmer und die Klinik. Sofort!«
»Gern. Aber glauben Sie nicht, daß ich schweigen werde!« schrie Svensson.
»Ich werde Sie belangen, Herr Svensson!«
»Das wäre zu schön! Das ist genau das, worauf ich warte. Vor einem dänischen Gericht werden Sie stehen müssen, und wir werden unsere Akten vorlegen …«
»Hinaus!« schrie Runkel. Er verlor alle Selbstbeherrschung. Er nahm die Svensson-Mappe mit den Gutachten und schlug mit ihr ein paarmal klatschend auf den Tisch. »Wenn Sie glauben, mir drohen zu können … Wer sind Sie denn!«
»Diese Frage sollten Sie sich selbst stellen!«
Mit zitterndem Finger schellte Runkel nach seiner Sekretärin. Svensson lächelte böse.
»Sie brauchen keinen Zeugen, Herr Professor. Ich habe, bevor ich zu Ihnen eintrat, die Sprechanlage von Ihnen zu allen Stationen eingeschaltet …«
Runkel rannte hinter seinem Schreibtisch hervor. Mit einer Schnelligkeit, die sein Alter nicht vermuten ließ, war er bei der Tür und riß sie auf. Die Sekretärin saß nicht an ihrem Platz. Auf dem Haussprechapparat, dessen Zentrale sein Sekretariat war, sah er alle Knöpfe heruntergedrückt.
»Ihre Sekretärin ist bei Doktor Färber. Ich habe sie unter einem Vorwand zu ihm geschickt.«
Runkel schaltete die Anlage aus. Sein Gesicht unter den weißen, schütteren Haaren war wachsbleich.
»Gehen Sie«, sagte er heiser, nach Atem ringend.
Svensson verließ wortlos den Raum.
Professor Runkel setzte sich schwer auf den nächsten Stuhl und legte die Hand über die Augen. Die ganze Klinik hat es mitgehört, dachte er. Alle Ärzte, alle Schwestern, alle Stationen …
In dieser Minute der Demütigung wurde in ihm ein Haß gegen Dr. Hansen geboren, der keine Grenzen kannte. Ein blanker, tödlicher Haß, wie ihn eigentlich nur Frauen empfinden können.
Angesichts der Tatsache, daß Chirurgie, Röntgenbestrahlung und Chemotherapie bei der Krebsbehandlung einen toten Punkt erreicht haben, ist es lebenswichtig, das Krebsproblem auf neue Art anzupacken.
(Dr. E. Wynder vom
›Memorial Cancer Center‹ in New York)
Die Umrisse der Klinik waren schon abzusehen.
Die ersten Besucher kamen an die Baustelle. Der Kreisarzt, Kollegen aus den Nachbarstädten, Reporter von Funk und Fernsehen, Bildberichter. Es sprach sich in Deutschland und Europa herum, daß hier in der Einsamkeit Holsteins eine Krebsklinik gebaut wurde. Eine Klinik ohne Messer, ohne Strahlapparate, ohne Isotope, ohne Kobaltbomben. Eine Klinik für die, die keiner mehr haben wollte … für die Unheilbaren. Eine letzte Zuflucht für die Abgeschriebenen, die hier noch einmal Hoffnung schöpfen sollten, die sich noch einmal an der Gewißheit aufrichten durften, daß ihre letzte Chance, mochte sie winzig klein sein, noch nicht vertan und verspielt war …
In dieser Zeit, in der alle Gedanken Hansens um die neue Klinik kreisten, machte Karin eine seltsame und beklemmende Beobachtung. Die Praxis ihres Mannes ging erst langsam, dann von Tag zu Tag mehr zurück. Selbst Patienten, mit denen ihn ein langjähriges Vertrauensverhältnis verband, blieben aus.
Hansen fiel das anscheinend überhaupt nicht auf, er erwähnte es jedenfalls mit keinem Wort. Und Karin zögerte lange, bis sie ihn darauf ansprach. Er hatte ohnehin genug Sorgen. Eines Abends, als sie den kleiner gewordenen Stapel neuer Krankenscheine sortierte, faßte sie sich doch ein Herz.
»Wir haben in drei Monaten siebenundvierzig Patienten weniger, Jens. Beim Fleischer habe ich erfahren, daß viele neuerdings in die Stadt fahren. Zu Fachärzten.«
»Ich kann sie nicht daran hindern. Meine Praxis ist groß genug. Jede Entlastung tut mir gut …«
In den folgenden Wochen blieben wieder Patienten aus. Und jetzt merkte es auch Hansen … Wenn er seine Hausbesuche machte, hieß es oft: »Ach, Herr Doktor, wir hatten gestern Gelegenheit, mitzufahren. Wir waren in der Stadt. Der Doktor Stäbler hat eine ganz neue Medizin verschrieben. Kennen Sie die – schon?«
Natürlich kannte Dr. Hansen sie. Aber es war ihm zu dumm, darüber zu diskutieren, warum er gerade diese angeblich neue Medizin nicht in diesem speziellen Fall verschrieben hatte. Er könnte ihnen erklären, daß die Barbitursäure, die sie enthielt, für sie nicht nützlich sei. Er könnte sagen: Sie enthält
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