Die Behandlung: Roman (German Edition)
gefallen war. Dann drehte sie sich um und sah sofort, dass Caffery ihren Blick mied und verzweifelt irgendeinen Punkt suchte, den er fixieren konnte. »Alles in Ordnung?« Sie kam ein wenig näher. Seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt. »Nein, scheint nicht so. Sie haben es drüben nicht mehr ausgehalten, was?«
»Mir geht’s gut. Pfefferminz?«
»Nein, danke.« Sie kaute auf ihrem Daumennagel, blickte Richtung Obduktionsraum und sah dann wieder ihn an. »Komisch. Eigentlich gar nicht meine Art. Aber ich glaube, ich bin ein bisschen neidisch auf Sie.«
»Neidisch?«
»Wenigstens haben wir Rory jetzt gefunden. Ist zwar tot, der arme Junge, aber immerhin haben wir ihn – und Mami und Papi können jetzt anfangen zu trauern.« Sie legte ihm teilnahmsvoll die Hand auf den Arm. »Und was ist mit Ihnen, armer Kerl?«
Caffery schwieg. Er traute sich nicht, etwas zu sagen, ja nicht einmal, in der Jackentasche nach dem Zigarettenpapier zu suchen, weil er Angst hatte, dass Souness das Zittern seiner Hände sehen könnte. Er starrte auf die Tür zum Obduktionsraum. »Ich … also, ich glaube, dass wir den Todeszeitpunkt bereits kennen. Jedenfalls, so weit man aus der Leichenstarre Rückschlüsse ziehen kann.«
»Und?«
»Ach, egal – am besten, wir gehen einfach wieder rein.«
Im Sezierraum hatte Krishnamurthi unterdessen weitergearbeitet. Er hatte Nagelproben entnommen und die Scheren, die er dafür verwendet hatte, zusammen mit den letzten Proben in die Tüte mit den Beweisstücken getan und diese dann dem zuständigen Beamten gereicht. Außerdem hatte er inzwischen das Klebeband von Rorys Gesicht entfernt. Fiona Quinn war zuversichtlich: In einem kleinen Beutel, der auf einem anderen Wagen deponiert war, hatte man nämlich fünf weiße Fasern sichergestellt, die Krishnamurthi mit einem leicht anhaftenden Klebeband aus den Druckstellen an Rorys Handgelenken entnommen hatte. Quinn kam die Aufgabe zu, diese Fasern massenspektrometrisch und gaschromatographisch auf ihre chemische Zusammensetzung und ihre Farbe hin zu untersuchen und dann – hoffentlich – mit den Fasern in den Kleidern eines potenziellen Täters zu vergleichen. Im Augenblick war Krishnamurthi gerade damit beschäftigt, den bereits erstarrten Oberkörper mit sanfter Gewalt gerade zu biegen, sodass der Junge jetzt ausgestreckt auf dem Autopsietisch lag.
Caffery und Souness hatten sich an die Wand gelehnt. Caffery lutschte ein Pfefferminzbonbon, während Souness nervös einen Finger in ihrem Ohr hin und her bewegte, als ob sie sich genierte, das Geschehen dort drüben auf dem Tisch anzuschauen.
Rory maß von seiner linken Ferse bis zum Scheitel 127 Zentimeter und wog 26,23 Kilogramm. Ein Vergleich mit der Tanner-Skala ergab, dass er etwas größer war als der durchschnittliche achtjährige Junge. Ein blutgetränktes Papierhandtuch mit einem blassen Blumenmuster an den Rändern steckte in einer Wunde an seiner Schulter und wurde durch das Gewicht seines Körpers zusammengedrückt.
Nun bewegten sich Krishnamurthi, der Fotograf und die Assistenten in einem komplizierten schweigenden Ritual um den Tisch herum, und jeder von ihnen wusste genau, wann er stehen zu bleiben hatte. Caffery und Souness sahen schweigend zu – beide hatten dieselben Fragen auf den Lippen: War das Blut, das man in der Küche gefunden hatte, möglicherweise aus der Wunde ausgetreten, die jetzt durch das Papierhandtuch abgedeckt war? Und: War Rory Peach sexuell missbraucht worden?
»Vor mir liegt der Körper eines normal ernährten Kindes«, sagte Krishnamurthi leise in sein Mikrofon. Seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wider. »Im Gesicht ist der Gewebedruck noch deutlich zu erkennen, die Augenhöhlen sind deutlich ausgeprägt, die Augäpfel selbst liegen tief in den Höhlen. Die Wangenknochen und die Kiefer erscheinen signifikant prononciert. Der Mund und die Nase sind« – er beugte sich vor und betrachtete aus nächster Nähe das Gesicht des Kindes – »sind trocken und verkrustet. Die Haut erweist sich beim Abtasten als elastisch. Ich möchte deshalb, dass die Histologie überprüft, ob eine Hyperkalemie vorliegt. Ferner wünsche ich eine Bestimmung des Natrium- und des antidiuretischen Hormonpegels und eine Messung des Plasmavolumens.«
»Harsha?«
Krishnamurthi blickte Souness an. »Ja, ja. Sobald die mikroskopischen Befunde fertig sind, kann ich Ihnen mehr sagen.« Krishnamurthi war dafür bekannt, dass er im Allgemeinen nicht bereit war, die Fragen der
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