Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Behandlung: Roman (German Edition)

Die Behandlung: Roman (German Edition)

Titel: Die Behandlung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
Zigarillostummel, an denen Lippenstift klebte. Caffery zog eine andere Jogginghose, ein Sweatshirt und leichte Wanderschuhe an, holte ein paar Werkzeuge aus dem Kämmerchen unter der Treppe und ging dann nach hinten in den Garten hinaus. Er schlich sich durch das Gebüsch – an der Milchkiste vorbei, die Penderecki als Hochstand benutzt hatte -, dann durch Nesseln und zwischen tief hängenden Zweigen hindurch. Auf dem Bahndamm war alles still, der letzte Zug war schon vorbeigerollt. Plötzlich erschien ihm die Luft angenehm erfrischend und klar. Ein Stück entfernt auf dem Bahndamm standen die Signale auf Grün. Caffery überquerte rasch die Gleise und hörte im Unterholz das Rascheln eines erschrockenen Tiers. Auf der anderen Seite stieß er auf einen Wildwechsel – oder ist das etwa Pendereckis Trampelpfad? -, der direkt zum Garten des alten Mannes führte.
    Auf der Rückseite des Hauses war alles ruhig und dunkel. Der seit Ewigkeiten nicht mehr frisch gestrichene Zaun roch modrig und wackelte. Caffery huschte durch den Garten. Als er näher zum Haus kam, ergriff eine gewisse Beklommenheit von ihm Besitz. Und dann sah er, dass dicke Fliegenschwärme an den Fenstern des klapprigen Anbaus klebten und sich träge bewegten.
    Mit seinem Schweizer Armeemesser entfernte er an der Küchentür den Kitt von einer Scheibe und wischte sich anschlie ßend die Holz- und Farbpartikel von seinem Sweatshirt. Jetzt brauchte er bloß noch vorsichtig die kleinen Stifte herauszuziehen und die Scheibe aus der Sprosse zu nehmen. Als Erstes traf ihn ein Schwall übelriechender Luft. Er wusste sofort, was ihn oben im Bad erwartete. Der widerliche Gestank ging ihm durch Mark und Bein. Unvermittelt sah er Bilder von aufgeschlitzten menschlichen Eingeweiden vor sich, von Toten, die aufrecht in ihren Gräbern saßen und in schwärzester Nacht ihren giftigen Atem aushauchten. Dann schob er den Arm durch die Öffnung nach innen, drehte leise den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Das Summen der Fliegen klang jetzt noch bedrohlicher. Ach du lieber Gott, dachte er, das darf doch nicht wahr sein.
    Stille.
    »Ivan?«
    Er blieb stehen, zählte bis hundert und wartete auf eine Antwort.
    »Hallo, sind Sie hier?«
    Wieder keine Reaktion. Nur das Rauschen seines eigenen Blutes in seinen Ohren. Er trat leise in die Küche.
    Bevor Penderecki ihm vor rund zwanzig Jahren auf die Schliche gekommen war und es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sämtliche Türen abzuschließen, war Caffery schon mal in dem Haus gewesen und hatte gestaunt, wie normal es in den Räumen aussah. Es war das Haus eines alten Mannes, feucht und abgewohnt, doch ansonsten völlig normal. Gemusterte Tapeten, ein Gasofen und neben dem Sofa ein sorgfältig gefaltetes Exemplar der Radio Times . Milch im Kühlschrank und eine Tüte Zucker auf dem Küchentisch. So hatte man sich das also vorzustellen: die Wohnung eines passionierten Pädophilen. Als er nun durch die Räume ging, war er überrascht, wie wenig sich verändert hatte. Das Haus war kleiner und die Tapete gelber als in seiner Erinnerung. Über der Treppe hatte sich sogar ein Tapetenfetzen von der Decke gelöst, und der Teppich glänzte vor Schmutz. Vorne im Gang vor der Eingangstür lagen ein lokales Anzeigenblatt und diverse Restaurantreklamen am Boden, doch bis auf die Fliegenschwärme war alles genau wie früher. Ja, Jack schien, als ob seine Erinnerung vor seinen Augen wieder Gestalt angenommen hätte.
    Auf der schmalen Fensterbank neben der Treppe stand ein Gerät, mit dem Penderecki Telefongespräche abhören konnte – wie Caffery wusste. Daneben lag ein aufgerissenes braunes Kuvert. Der Umschlag war leer, doch als Absender war die Onkologische Abteilung des Klinikums in Lewisham vermerkt. Der erste konkrete Hinweis. Caffery schob das Kuvert in die Tasche. O Jesus, dachte er, o Gott, bitte nicht. Er ging langsam die Treppe hinauf. Unter seinen Füßen knirschten tote Fliegen. Ringsum ein monotones Summen, als ob die Insekten das ganze Haus in Besitz genommen hätten.
    Oben auf dem Treppenabsatz sah er, dass lediglich die Badtür geschlossen war, sonst standen alle Türen offen. Durch einen Spalt unter der Tür drang Licht nach außen. Der Geruch war hier oben noch widerwärtiger. Während er nach dem Lichtschalter tastete, presste er sich sein Sweatshirt an die Nase. Die Glühbirne machte nur einmal ping, sonst nichts. Verdammte Scheiße . Er arbeitete sich tastend in eines der angrenzenden Zimmer vor und schaltete

Weitere Kostenlose Bücher