Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Zufall? Verirrung? Ideal des Rechtdenkens? Die Gangster haben ja auch so etwas wie ein für sie geltendes Gesetz. Ich denke, das Wichtigste in Amerika ist die Vorstellung der Effizienz, und um zu einer solchen zu gelangen, gleichviel auf welchem Gebiet, auf dem der Forschung oder des Sektenbetriebs, des Entertainment, der Wirtschaft und Wissenschaft, bedarf es des pionierhaften Zupackens, und der Erfolg wird geheiligt. Eine gewaltige Vereinfachung des Lebens, wohl zum Teil vom Puritanertum herrührend. Wohl
stand ist gottgefällig, Familie ist heilig, weil praktisch oder umgekehrt, der Kirchgang und die entsprechende Zugehörigkeit ist anständig, die Abtreibung ist es weniger, die Slums wiederum sind nicht unbedingt unanständig, sie sind unvermeidlich, wie eben jede Art Ausschuà zur ungehemmten Produktivität gehört. Aus Amerika wird man nicht klug. Man neigt zu Simplifizierungen in der Beurteilung, es ist wohl alles viel komplexer und komplizierter. Die Welt des freien Mannes.
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Heute Ȉ la bonne table«, Rue Seveste unterhalb der Gärten von Sacré-CÅur, eingekehrt, in diesem mir bereits von frühen Tantenbesuchen bekannten und in meiner ersten Pariser Zeit nicht nur frequentierten, sondern besonders lieben Montmartre-Quartierrestaurant: ein Pilgergang? Ich rase ja neuerdings wieder kreuz und quer durch die Stadt, fresse mich richtiggehend voll mit Pariser Bildern, Lebensmaterial. Nachholbedarf? In-Gang-Setzung der inneren Schreibmaschine im Sinne der Ãbersättigung, die das respondierende Formulieren wachruft.
Nun, damals bei den Tantenbesuchen war »la bonne table« für den Berner Jungen ein Fest des Lebens. Der kleine vordere Saal â seinerzeit kam er mir riesig vor â war immer brechend voll von Essenden, Schwatzenden, die sich alle kannten. Wenn Lola mit Jimmy oder Toby, dem Foxterrier, und mir eintrat, hieà es von überall her »Bonjour, Madame Lola«, man war zu Hause, die Bemerkungen und gutmütigen Witzeleien flogen hin und her, auch der Hund war allen bekannt, er durfte ungeniert mitessen bei Tisch, und ich war der stolz vorgezeigte Neffe aus der Schweiz. Und die Tische mit den riesigen Behältern der Vorspeisen, Salaten und Wurstwaren, Fisch und Eiern â¦, an welchen man sich nach Belieben gütlich tat, waren für mich Schlaraffen
land. Der Wein kam unaufgefordert auf den Tisch, er gehörte zum »couvert« wie auch die überquellenden Brotkörbe mit geschnittenen Baguettestücken. Das alles war Vorspiel, dann erst folgten, wenn man kaum mehr Appetit hatte, Fleisch und Gemüse, die Tagesgerichte; und danach Kuchen oder Früchte, Käse, SüÃspeisen und Kaffee. Es war ein FreÃfest und ein Anschauungsunterricht französischer Tafelfreuden, man saà eng zusammengepfercht, und die Wirtin überwachte ihre Kinder liebevoll, und hinter der Theke im Hintergrund des Saales waltete der Wirt und kümmerte sich um die Verdauungsschnäpse. Und die Gäste hatten rote Gesichter und redeten mit vollen Mündern, eine lustige Gesellschaft. Und der Foxterrier ging von Tisch zu Tisch betteln und kriegte auch immer was ab, und Tante beschimpfte ihn gutmütig, quel mendiant, fais le beau, und er machte Männchen und schnappte nach den Zuckerstückchen. Auch für ihn war es ein Fest.
Und jetzt? Der Dekor ist sich gleich. An den Wänden die Malereien wie in einem Kabarett, montmartrerisch eben, die Theke im Hintergrund kam mir verschimmelt vor. Vor allem war ich erstaunt, so wenig Tische vorzufinden, so klein war mein Restaurant in Wirklichkeit?, das Lokal war leer, die Handvoll Gäste saÃen wie Schatten und Schemen mäuschenstill auf ihren Stühlen in dieser abgestandenen Luft, die man mit Gruft identifiziert hätte, und der Wirt, ein jüngerer Mann mit einer süÃlich-überhöflichen Rede, Maghrebiner? brauchte unendlich viel Zeit, um etwas herbeizubringen, Zeit, um die Bestellung entgegenzunehmen, Zeit, um das Brot, das Krügchen Wein, endlich die gewählte Vorspeise zu servieren, die aus einem Kühlschrank zu stammen schien, so viele huschende Gänge und ebenso lange Abwesenheiten, von Schlaraffenland und von Schmatzen und fröhlichen Stimmen jedenfalls keine Spur mehr Ich lief dann nach Clichy an all den pornographischen Schuppen und Sexläden vor
bei, und ein AnreiÃer, der mich sogar am Arm gepackt hatte, um mich zu einem Besuch mehr zu
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