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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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psychoanalytischen Wissenschaft spottet. Das Selbstdenkerische ist so erstaunlich, auch die Respektlosigkeit den ganzen etablierten Fachwissenschaften gegenüber resp. Wissens- Kirchen . Wobei sich natürlich herausstellt, über welch umfassendes Quellenwissen Canetti verfügt. Was ihn von der etablierten Forschung unterscheidet, ist der unverschämte, quasi naive Zugriff des Selbstdenkers. Darum ist Masse und Macht lange und vielleicht bis heute von den Vertretern des Fachs als eine Art Scharlatanerie oder doch Dilettantismus rezipiert worden. Außerdem: Aufzeichnungen, Aphorismen, Lebenserinnerungen. Der Autor dieses einmaligen und merkwürdigen Gesamtwerks ist, wie mich immer dünkte, mit einem Sendungsbewußtsein ausgestattet (Sendungsbewußtsein gleich Retterattitüde), hier das Streitbare, aber auch die hohe Selbsteinschätzung inklusive Eitelkeit. Denn von Eitelkeit schien mir Canetti nicht frei, er war sehr wohl darauf bedacht, seinen Rang einzufordern. Ich habe ihn im freundschaftlichen Umgang nie als überheblich erlebt, die Unbescheidenheit betraf den geistigen Anspruch. Im übrigen erschien er mir auch in seiner spezifischen Eitelkeit immer vollkommen natürlich. Er wußte um seinen Rang, er dachte in Hierarchien, er konnte verehren.
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    Gestern den Schluß des Buches auf Band aufgenommen. Beim Schreiben war ich mir über nichts im klaren. Die Sätze lösten sich mir von der Zunge, immer zu meinem größten Erstaunen, auch Gelächter. Ich wußte einfach nicht, woher ich das alles nahm.
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    Ja, dieses Buch war mein ganzes Glück und womöglich das Äußerste, das ich erpressen konnte. Ich wollte es nicht loslassen, nicht hergeben. Denn das Danach schmeckt nach Tod oder Ende – wie immer man dieses Wort interpretieren will.
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    Bin neulich mit einem seltsamen Schmerz aus einem Nickerchen aufgewacht. Ich sah im Traum eine Freundesgruppe irgendwo beim Tafeln vor mir, Freunde aus der Zürcher Zeit, Otto Müller und Trudi Demut, Paul Eppstein, Teddy Richard, Künstler, Intellektuelle, sie gehörten auch ein wenig zum Kreis von Elisabeth Plahutnik und Hans Schweingruber, vor allem gehörten sie zu meinem damaligen Umgang; wichtig schien mir im Traume, daß es ein Aufgehobensein bedeutete, wenn ich so im Vorbeigehen oder anläßlich eines Festes, einer Vernissage in so eine Gruppe einfiel, mich gutmütig frotzeln oder einfach willkommen heißen ließ, ich war ja willkommen, weil ich zu ihnen gehörte, wenn auch mein Leben in anderen Bahnen verlief und vor allem hinaus und von ihnen und Zürich weg tendierte. Was mir aufging, war das Kapital des Wohlwollens, von Freundschaft und Solidarität, wenigstens in gewissen Grenzen. Und dann das nicht hoch genug einzuschätzende Voneinanderwissen, fast schon jeder des anderen Gewissen. Ich sah es wie Lagerfeuer im Wilden Westen, bei welchen der einsame Reiter absteigen konnte und mit Gastfreundschaft und Proviant rechnen durfte. Und was schmerzte war: daß diese Lagerfeuer nicht nur erloschen, sondern aus der Welt verschwunden waren zusammen mit den Toten. Denn all diese Freunde sind tot. Der Schmerz ein Kältestich, die eigene Gottverlassenheit. Wehmut.
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    Mit Leonid auf einem Morgenspaziergang durch die Tuilerien beim unteren Brunnenbecken, nein Bassin, da, wo die Gärten sich auf die Place de la Concorde öffnen, auf eine Menge tief jagender Schwalben gestoßen. Sie flogen tief, weil die Lufttemperatur morgendlich kühl und vermutlich das Wasser wärmer und darum die Mücken knapp über dem Wasserspiegel westen, jedenfalls jagten sie in herrlichen Kapriolen über dem Becken, sie pfeilten in einem schwarzen Aufruhr durcheinander, ich konnte mich nicht losreißen von dem herrlichen Tumult, einem ansteckenden Überschwang. Nie hatte ich sie so nah, so zahlreich auf engem Raume, so entfesselt, so rauschhaft erlebt. Dagegen die Stare, die auf den Rasenflächen wie winzige Hühner wirken, wenn sie eifrig vor sich hin picken: auch sie Zugvögel, aber nun, ausgehungert nach der langen Reise, beim Auffuttern, niedliche Wurmsucher, eifrige Sammler, unansehnlich.
    Ja, die Schwalben gehören auch zu meinen Gottheiten. Im Fell der Forelle spielen sie auch eine Rolle – neben den ärgerlichen Tauben. Alle Vögel, auch Zugvögel, haben ein – manchmal lächerlich anzusehendes – Erdenleben, nur die

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