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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Schwalben nicht, die im Himmel wohnen.
    Bin in letzter Zeit ziemlich viel im Kino gewesen, sowjetische Literaturverfilmungen, ganz wunderbar; daneben einen Krimi aus den siebziger Jahren, farbig, von Phil Karlson, den ich schon mal gesehen und jetzt beim Wiedersehen wiederum toll fand. Und gestern King of New York von Abel Ferrara, wie er seine Schauspieler erpreßt, wie ein Cassavetes; er hat vor allem diesen Hauptdarsteller, Christopher Walken, der die schon fast extraterrestrische Souveränität des Todesengels besitzt, eine hinreißende Leere im Gesicht, was auch wie Vision wirken kann. Die Story ist trivial, es geht um die Machtergreifung im Drogengeschäft, jenseits von Gut und Böse, um eine Feldherrngenialität, es ist nicht anders als bei einem Napoleon, die alte Geschichte, und die
Pfade sind mit Leichen gepflastert. Ferrara ist nicht allzuweit von einem David Lynch, nur satanischer. Erstaunlich das Umschlagen von Grauenhaftigkeit in künstlerische Sieghaftigkeit, der Kinogänger bleibt offenen Mundes da sitzen und hat das Gefühl, der Erschaffung der Welt beizuwohnen.
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    Muß mir schnell überlegen, was es mit der verhältnismäßigen »Ernüchterung« beim Schwellenübertritt von Frankreich nach Deutschland auf sich hat. Früher nannte ich es den Eintritt in ein Werktagsland, wohl im Unterschied zu dem in Frankreich und Italien permanenten Fest des Lebens.
    Ich empfinde in deutschen Landen immer eine dünnere Luft, nicht entseelt, aber entfettet , entzogen ist das Lebensschmieröl, verarmt, eine Art Magerluft, kein Begehren in der Luft, kein Glücksversprechen, kein Erotikum, das dich in die Zirkulation aufnähme, kein Überschwang, es ist der Ernst des Lebens, es ist möglicherweise der beinerne Goodwill oder eine Art verklemmt-verdrängte Moraldiktatur, die Pflicht, die den Ton angeben oder simpler ausgedrückt: wenig Lebensfreude, die dich anspränge, natürlich auch kein entsprechendes Kommunizieren, Fraternisieren, bestimmt nicht auf der Ebene des Nur-Menschlichen, das Alltägliche hat nichts Aufreizendes, nichts Romanverdächtiges, nichts Filmhaftes, vor allem nichts Verführerisches, aber auch nicht das in den lateinischen Ländern mitschwingende leise Tragische, das versöhnlich stimmt und den Jahrmarktskehrreim beisteuert. Es ist verdammt wenig Anruf in der Luft und schon gar keine Einladung einzutreten in den großen Roman und Reigen, wie es in Paris der Fall ist. Und vielleicht sogar noch in der französischen Provinz; was fehlt, ist der Leichtsinn oder das Aroma der alles versöhnlich einnebelnden großen
Illusion. Statt dessen Tatsachen. Kein Lied überm Land, das heiligt und feiert, hätte Herr Rilke bemerkt. Früher der Marschschritt.
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    Zur mehrwöchigen Autoeinäscherei (mehrere Tausend Wagen) und den dazugehörigen Gewaltausbrüchen der Banlieue-Jugend in ganz Frankreich, die Wochen dauerten und sich – wahllos! – gegen Polizei Geschäfte Pompiers Autobusse Kindergärten Schulen Kirchen etc. richteten und als Intifada oder auch Stadtguerilla apostrophiert wurden und Regierung, Politiker, Soziologen, Urbanisten und natürlich Polizei und Justiz in Atem hielten (bis an die Grenze des Gespensts eines Bürgerkriegs) und alles in allem das ungelöste Problem der Integration an den Tag und aufs Tapet brachten, weil diese Vorstadtjugend ja vorwiegend aus den Abkömmlingen der aus Nord- und Schwarzafrika eingewanderten Farbigen bestand, geborenen Franzosen oder Söhnen und Töchtern der Republik, wie Chirac es in seiner Fernsehansprache an die Nation nannte, die sehr lange auf sich warten ließ, fällt mir folgendes im Rückblick ein: Es war keine organisierte Revolution, es gab keine politischen Forderungen, es war ein Flächenbrand, fast schon eine Naturkatastrophe, und zwar aus Gründen einer nicht weiter aushaltbaren Erniedrigung, Respektlosigkeit, das Ganze war ja mehr oder weniger durch Sarkozys beleidigende Worte des Gesindels (racaille) provoziert worden.
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    Daß Höhlu nicht mehr ist. Er liegt in Beckenried begraben. Möchte sein Grab aufsuchen, möchte mich nach seinem Sterben erkundigen. Wir waren als Schüler ein Brüderpaar. Wir teilten den Traum des jugendlichen Lebensantritts, wenn möglich als Künstler. Oder wir träumten den Traum vom
großen Abenteuer, Welteroberung, Liebestribut. Wir wuchsen

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