Die Belagerung der Welt - Romanjahre
erlebt und dann sein erstes Drama, Hochzeit , geschrieben. Bei Büchner ist dasselbe bezüglich des Dichters Lenz zu sagen. Und geht von da nicht etwas zu einem Horváth?
So gesehen wäre jeder echte Künstler auch eine Art Bote im geistigen Geschichtsraum, einer, der in sich das Vermächtnis, nein, mehr: die Figur seines Vorbilds wie eine innere Figur (wie eine mittelalterliche »Seele«) mitträgt. Am Endpunkt dieser Botengänge und Botennetze würde sich allerdings herausstellen, daà das Vorbild, das weitergereicht und übermittelt wird, nicht eine Dichterperson, sondern etwas namenlos GröÃeres war.
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Canetti ist von einer aggressiven Güte. Er ist die verkörperte Kriegserklärung an alles Gemeine, Niedrige, Schläfrige und eine moralische GroÃmacht.
Friedrich Kuhn säuft seit Wochen in der anstöÃigsten Weise, heiÃt es, und ich habe ihn ja auch gesehen, mehrmals: abgesoffen, erbarmungswürdig etc. Ich und andere von Kuhns Freunden haben mit Schmerz darauf reagiert. Mein Schaudern angesichts dieses in Suff und irrer Wüterei abhanden gekommenen Kuhn von vorher faÃte sich in die Frage: Warum hast du aufgegeben? Neulich habe ich ihn wieder getroffen, im Kreis 4 an der LangstraÃe, eine bereits legendäre Erscheinung in diesem Viertel, Inkarnation eines Bohemiens, mithin eines antiquierten Exemplars, der eine Art Garde um sich gesammelt hat, aber auch Verfolger. Ein Verächter der Ordnung, ein wandelndes Beispiel der MaÃlosigkeit. Ein Verführer, Verleumder der Wirklichkeit.
Er (der ja nicht an Kunstwaren glaubt â »Kunst ist umsunst«) hat jetzt übergewechselt in die Freiheit des tosenden Mimen, die LangstraÃe ist sein Parkett, er ist der Eroberer in vielen Rollen; er sucht das Wunder, es hat beinah etwas Religiöses, wie er seine Herausforderung an den Tod vorlebt. Aber es ist nichts Beklagenswertes dabei, im Grunde. Es ist der immergleiche, der alte Kuhn: der das Wunderbare und AuÃerordentliche verteilt oder doch anruft wie jener, der ausrief: Ich lasse dich nicht, du segnetest mich denn. Das Wunderbare ist gleichermaÃen in diesem MaÃlosigkeitsbeispiel und in der Herausforderung, über den Schatten des eigenen Todes zu springen. Er versucht jetzt gewissermaÃen über das Wasser zu schreiten, der Todgeweihte. Dieser Totentanz ist seine Erpressung des sogenannt realen Lebens, und er führt diese Erpressung mit dem Einsatz seines Lebens durch. Ist dieser traurig-imponierende Exzeà ein Versuch, dem abschlieÃenden Kapitel in meiner Kuhn-Monographie, dieser Festlegung, zu entkommen? Warum
ich ihn so lange nicht begriff? Wo ich doch letztlich genau nach demselben dürste?
Die Legende zu Lebzeiten aufzustellen in atemloser, in atemanhaltender Steigerung ist der inbrünstige Versuch, aus dem schleichenden Tod im Dasein den Beweis eines eigenen Vorhandenseins zu erzwingen. So wie es in Spanien war, als ich mit allen Poren das sinistre Trommeln spürte und dieses beharrende Trommeln meine sichtbare Auferstehung im Leben jetzt zu fordern schien. Alles in mir war stumm vor Erwartung, und die Augen brannten in den Höhlen so weit aufgerissen, und alles war voll des furchtbarsten Ernstes und dennoch ganz leicht, weil nichts mehr zu verlieren und alles zu gewinnen war.
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Es fiel mir ein, daà im Zusammenhang mit Liebe oder doch mit dem Zustand der Verliebtheit dieses inständige Reden zu zweit (abseits) einhergeht. Dieses »Sich-selbst-geschenkt-bekommen« aus den Augen und Worten des anderen, dieses Neugeborenwerden, wohl Erkennen , irgendwo an einem Tischchen in einem Wirtshaus, irgendwo abseits passiert es. Man tritt aus dem Munde der Schönen (heiÃt es im Canto ). Der Partner wird eine Art Existenzgarant, deshalb dieses Hangen und Bangen, als hinge die eigene Existenz von der Erhaltung dieses Liebeszustandes ab. AuÃerhalb droht die Gefahr, in Nichtexistenz zurückzufallen. Deshalb auch dieses Hinterherbuchstabieren der Szenen und Gesprächsfetzen, dieses dauernde Rekonstruieren: weil alles plötzlich nur noch innerhalb des Rahmens des neuen Wunders zu bestehen scheint.
Existenzhelfer einer dem andern.
Ein jeder redet über den andern wie über die Entdeckung Amerikas, und der andere horcht in höchster Anspannung.
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Der Prager Friedhof ist eminent parkartig. Das Grab Palachs im neueren Teil des Friedhofs ist über und über bekränzt vor
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