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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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mit mir Schritt halten und sprach immer vom Langsamergehen. Und ich: »Muß ich eigentlich (mit dir) rückwärts laufen?« In diesem Moment habe ich sie wirklich abgelehnt, jedenfalls war ich für Augenblicke ihr gegenüber vereist. Und am Tag danach hat sie in einer Trattoria in die Spaghetti geweint, mitten unter Leuten, und es war Sonntag, das Lokal überfüllt.
    Und wie wir vor meiner Abreise nach Paris im Restaurant Monza in Zürich zusammensaßen. Und kaum etwas aßen. Der Zug würde in zwei Stunden gehen. Und ich wollte dies Mal nicht begleitet werden, nein. Ich ging dann auch allein.
Und sie: »Glaubst du, wir werden wieder zusammenkommen? Wird es wieder gut werden (können)?« Ich sagte, zweifellos würde alles wieder werden.
    Ich staune über mein Leben. Über die Traurigkeit und die verzweifelte Sucht, es zu gewinnen. Und ich habe in letzter Zeit immer von früher geredet, immer rückwärtsgewandt: von Leuten, die das Leben gelebt und es verloren oder nicht bestanden oder nicht ganz bestanden hatten (Kesser, Leoncillo, neulich Bruno Diemer).
    Und ich arbeite manchmal über meinen Abgründen. Und Marianne drüben in Berlin. Gestern hatte ich sie am Telefon. Das klang schon sehr distanziert. Sie will und kann nicht schreiben. Sie liege tagelang wie Oblomow. Bedenkt, bestaunt, beweint ihr Los.
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    Ja, ich war noch in Zürich, erhielt andauernd Odiles Telefonanrufe, zu jeder Zeit des Tages und der Nacht, manchmal auch nur eine Notiz von Walter, daß sie angerufen habe. Und ich auf meinem Abschiedstrip, ohne Kontakt zu Marianne. Und dann fuhr ich endlich nach Paris.
    An einem Dienstag war es. Und Ende der Woche sollte Odile in Paris eintreffen. Trotz des Briefes überkam mich schon bald eine unerklärliche Unruhe. Ich versuchte sie anzurufen – und erreichte sie nie. Wo mochte sie sein? Wo? Dann erreichte ich sie endlich. Und nun purzelten die Sätze nur so aus ihr heraus: Sie komme nicht nach Paris, es sei alles aus, fini, c'est fini. Und ich solle nicht anrufen, nicht schreiben, nicht kommen. Alles schnell und im Tone der Endgültigkeit gesagt. Ohne Erklärung.
    Ich nahm am selben Abend den Nachtzug nach London. Die Fahrt eine Marter im Abteil mit jungen Reisenden, der ganze Zug überhaupt voller junger Leute, Ferientramps, Studenten. Und die langen Warteschlangen beim Fährboot,
beim Zoll, bei der Paßkontrolle. Ich hatte die silberne Taschenflasche mit Whisky dabei und nahm von Zeit zu Zeit einen Schluck. Ich konnte nicht schlafen. Ich war grau vor Angsterwartung. In der Victoria Station nochmals durch eine Warteschlange aufgehalten, es war kurz vor acht, glaube ich, und ich hatte kein englisches Geld dabei, mußte also auch vor der Wechselstube anstehen. Dann nahm ich ein Taxi in die Mount Pleasant Road, fuhr durch London, am Hyde Park entlang, möglichst alle Gedanken verdrängend. In der Nähe des Fahrtziels ließ ich anhalten, um anzurufen. Ich sei da, ganz in der Nähe. Sie stand in einem japanischen Morgenmantel an der Haustüre und ließ mich ein. Und dann waren wir in ihrem Zimmer. Ich nahm sie in die Arme, erleichtert, daß ich wenigstens bei ihr war. Ich stellte die Koffer hin, setzte mich ihr gegenüber an den niedrigen Tisch. Und dann sprachen wir.
    Und später gingen wir wie früher durch die Straßen. Meinen Arm hatte ich über ihre Schulter gelegt, und sie hielt mich um die Taille; oder wir hielten uns an der Hand, und von Zeit zu Zeit küßte ich sie, und sie küßte zurück, es war wie früher, nur daß sie gedämpft und verhalten oder auch verlegen schien. Es war nicht mehr diese Trennwand da in ihrem Zimmer, aber es war auch nicht mehr dieses absolute und verliebte Beieinander wie sonst immer. Oder war es sonst auch nicht so gewesen? Sonst hatte sie mich doch immer gehalten und von sich aus geküßt, auch in der Metro oder beim Warten in einer Taxischlange oder wo immer, so daß ich mich manchmal fast ein bißchen geschämt hatte. Jetzt war es so, als ob sie mir ein mildes Entgegenkommen schulde.
    Wir gehen also in dieser Verschränkung (die aber nur mehr ein Echo ist auf frühere wirkliche Nähe) durch die Oxford Street, dann rüber nach Soho, immer auf der Suche nach einem einigermaßen ruhigen Pub, aber alles, auch die Stra
ßen, ist voll von verkleideten, mit Nationalattributen ausstaffierten Schotten, grölenden demonstrierenden

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