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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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besoffenen Schotten, die sich und alle Welt für das bevorstehende Länderspiel England-Schottland aufheizen (das die Schotten denn auch gewonnen haben). Keine günstige Lage für Odile und mich. Ich rede jetzt andauernd davon, daß wir unseren Plan durchzuführen hätten, daß wir nämlich, wie übereingekommen, das Zusammenleben erproben müßten. Ich sage, ich nehme dich jetzt übers Wochenende mit nach Paris, und diese Nacht bleibe ich bei dir. Sie ist bei alldem merkwürdig passiv, nicht nur unentschieden, sondern unerreichbar, fast geistesabwesend. Etwas in ihr stemmt sich unausgesprochen, aber nachhaltig dagegen. Einmal sagt sie, was sie früher schon erwähnt hatte: Der Altersunterschied mache ihr Angst, weil ich alles schon durchlebt und erreicht, also hinter mir hätte, was ihr noch bevorstehe; sie würde soundso viel, was ihrer Lebensstufe entspreche, dann nicht mehr unternehmen, nicht mehr angehen können, und sie würde von mir eingesperrt sein. Ich spüre die ganze Zeit, daß alles verloren ist. Verloren, verloren. Zwar bilde ich mir zwischendurch ein, es käme doch alles zustande, was ich ersehne. Dann stellt sich bei mir merkwürdigerweise nicht Freude oder Erleichterung ein, eher Beklemmung.
    Sie möchte heimgehen, sagt sie. Sie will allein sein, schlafen.
    Wir haben uns zu Bett gelegt. Dann schliefen wir nebeneinander. Ich erwachte aus einem merkwürdigerweise glücklichen Traum, dessen Inhalt ich vergessen habe. Ich erinnere mich an die Abschiedsumarmung: Sie lehnte sich mit zu Boden gesenktem Gesicht an meine Schulter, dann verkroch sie sich ins Bett. Das letzte, was ich von ihr sah, war der Hügel des Deckbetts, unter welchem sie ganz und gar verschwunden war. Möglicherweise weinte sie darunter. Ich zog mich an und ging grußlos hinaus in den Tag. Denselben
Samstag mit dem Nachtzug nach Paris zurückgefahren. In Paris war es kalter Sonntagvormittag. Darum reiste ich noch denselben Abend nach Zürich weiter.
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    Damals. Stand Marianne plötzlich da, frühmorgens war es, in der winzig-kleinen Pariser Wohnung, im Reiseaufzug, im bodenlangen, hemddünnen Mantel, in der neuen Magerkeit, das Gesicht bleich, kantig; eben vom Flugzeug, eben vom Terminal und von da per Metro eingetroffen. Im bleichkantigen Gesicht eine gewisse Vorsicht, das leise Forschende, das Beherrschte auch. Hatte ich um Hilfe gerufen? Jedenfalls war sie herbeigeflogen, in der vollen Bedeutung des Wortes. Und stand nun da, bereit, zu helfen, in unverbrüchlicher Solidarität. Dem Dreckskerl zu helfen, der ihr so viel Leid zugefügt hatte.
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    Ich hatte sie aus dem Nest der Liebe, zumindest einer dementsprechenden Vergewisserung gestoßen mit meiner Odile-Geschichte, in ein Dasein der Fassungslosigkeit, einer alkohol- und nikotinvergifteten Haltlosigkeit, Auflösung. Durch meine Hölle war sie gegangen, und nun stand sie da.
    Sie steht da und hat dieses Forschende, Ängstliche, Den-Tränen-Nahe in den Augen. Wir gehen essen, wir gehen schlafen, wir sitzen uns gegenüber, wir reden. Und immer ist dieses neue Niemandsland zwischen uns, der Vertrauensverlust. Sie steht – abwartend? mißtrauisch? furchtsam? verletzlich? – in der Wohnung herum. Fluchtbereit? Was sollen wir miteinander? Was sollen wir spielen ? In der kleinen Wohnung, am neuen Wohnort, in der Stadt Paris, Frankreich, wo man leben könnte wie Gott in Frankreich, wenn, ja, wenn die Liebe noch wäre und die Zukunft zu zweit und die Hoffnung. Und jetzt hätte ich sie wiederum aus
einem schüchternen Selbstwerdungsversuch herausgerissen. Sie sei jetzt mehr löwinnen- als häschenartig geworden, hatte sie geschrieben, fast mutwillig, doch jetzt fallen Panzer und Fassung ab vor dem klaffenden Niemandsland, das sich zwischen uns breitmacht, und vor der offenen Frage, was werden wird und soll, hier in Paris.
    Manchmal rettet sie sich in Angriffslust, Vorwürfe. Warum, warum habt ihr alles so leichtsinnig zerstört? Ich hab wirklich daran geglaubt, daß wir bis 65, wie ich es immer im Spaß sagte, bis 65, bis zur Altersrente, zusammenbleiben würden. Ich habe es im Spaß gesagt, aber geglaubt hab ich ganz fest daran. Du bist die Liebe meines Lebens; und jetzt ist alles vorbei. »O verloren«, lautet der Refrain in Wolfes Schau heimwärts, Engel .
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    Sie ist mir immer wieder entkommen auf diesem Gang, das steht fest, aber warum

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