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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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von Fremde und Furcht, Berührungsfurcht, Mißtrauen dabei überwunden werden in diesem, ich kann es nicht anders nennen, Vertrauensbeweis, wenn man sich zueinander legt, nackt wie man ist, und dieses kleine Glück herzustellen beginnt. Es geht mir nicht um den schnellen
Sex und schon gar nicht um Spezialitäten, sage ich, sondern nur um dieses Immergleiche und Wunderbare, und wenn es gut ist, dann ist es doch schon auch Liebe oder doch an die Liebe angrenzend, was da passiert. Und dann ist auch noch etwas anderes dabei, bei mir jedenfalls, fast etwas Lazaronisches, wenigstens im Bedürfnis, ich kann es schlecht ausdrücken, sage ich. Und schön ist das Zuhören, wenn die Mädchen zu reden und zu erzählen beginnen, aber jetzt nicht gestellt, sondern vertraulich und von sich aus, ja, oft habe ich den Eindruck, daß nicht nur sie es sind, die etwas geben, nicht sie allein und ich bloß der Nehmende, sondern daß auch ich etwas hergebe und bringe, ja, sage ich, ich bin schon auch der Hurenhirt, ich schaue nach ihnen, ich trage ihre Konfidenzien fort, wie es im Canto heißt.
    Und so rede ich, und es ist zum ersten Mal, daß ich es so einfach und wie es ist sagen kann, wenigstens Marianne deutlich machen kann, wir haben ja bisher kaum je darüber gesprochen, und tatsächlich fällt nun bei ihr jeder Argwohn, Spott, Hohn weg, und sie sagt: »Ich kann es verstehen.« Und dann schlage ich vor, daß natürlich auch sie ihr Leben haben soll und ihren »Fuhrknecht« oder wen immer. Daß sie aber andererseits bei mir ihren Platz hat, sofern und solange sie will, da sie ja mich doch nicht ganz verlieren und opfern möchte, wie sie selber sagt, und plötzlich ist da etwas Mildes in der Stimmung, und sie meint, vielleicht können wir etwas machen aus den Scherben unserer Ehe und Liebe, was noch keiner konnte; wenn du nur dann morgen nicht wieder in deinen Machtwahn, deine Intoleranz verfällst. Und so haben wir es ausgemacht.
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    Kürzlich hatte ich hier Besuch von H. C. Artmann. Er war mit seiner neuesten Freundin, einer 17jährigen Schülerin aus dem Salzkammergut, Groupie, wie er das Wesen beim Na
men zu nennen die Direktheit hatte, unterwegs zu einem amourösen Urlaub in der Bretagne. Er ist 40 Jahre älter als seine Mini-Muse: eine Figur, die an Friedrich Kuhn gemahnt. Suhrkamp-Autor und einigermaßen berühmt. Ein gewaltiger Säufer, körperlich prima erhalten, wir haben noch zusammen ein wenig Boxen gespielt, übrigens in der Luxuswohnung von Susanna Heimgartner, die hier Kulturattaché ist (sie ist eine ehemalige Freundin von H. C. Artmann). Artmann ist ein Kelten-Fan und überhaupt in vielen Sprachen zu Hause, ein Sprach-Hippie, nicht nur polyglott, sondern auch institutionell-unstet im Leben. Ein Austria-Beatnik?
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    Und heute hab ich vor dem Warenhaus »Printemps« vier Dixieland-Musikanten gehört, Studenten wohl, ganz junge Menschen, einen kleinen mageren Klarinettisten, zwei Banjospieler und einen Baß, die – à la Claude Luther und Sidney Bechet – mit reichem Repertoire aufspielten. Den Klarinettisten hatte ich schon mal vor Nôtre-Dame gehört, er ist großartig, bravourös, nicht nur virtuos, ein Boxertyp, kurzhaarig, und beim Blasen kriegt er einseitig eine dicke Backe, während er nur ganz leicht mit den Füßen den Takt skandiert, aber manchmal geht er in die Hocke und erhebt sich dann – wunderbar. O wie er triumphiert und betört. Ich hatte, glaube ich, nasse Augen, und Neid. Dieses Stengelchen Klarinett, dieses leichte Gepäck. Und diese Macht über Gefühle und Herzen. Und die Figuren verschwinden ganz hinter ihren Tönen, Aufrütteleien, Jauchzern und Schluchzern und den Triumphen und den Erhebungen (nicht nur der Herzen), Aufständen! Das hätte ich immer auch sein mögen und wollen, ein dermaßen Mächtiger über Herzen und Gefühle mit nichts als Tönen. Es ist dies die Musik meiner Generation, der Existentialistengeneration.
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    Die Rolle meiner Asienfahrt. (Ich sprach ja schon lange von dem Projekt »Abschied von Europa«.) Ich glaube, diese Fahrt, dieser Ausbruchversuch aus dem vertrauten Europa hat mir einen nachhaltigen Schock versetzt. (Deshalb konnte ich wohl auch nichts darüber schreiben.) Ich war mir ja längst der Fragwürdigkeit meines europäisch-nihilistisch-individualistischen

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