Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
früher schrieb sie mir, sie möchte, daß ich sie ein wenig
befreie, erleichtere: indem wir uns in Ruhe lassen? Ja. Und nun, nach dem letzten Zusammensein in London schreibt sie kategorisch, daß wir voneinander lassen müssen, denn anders sei es der Untergang, die Verderbnis (la perdition). Schreibt man so von Liebe? Alles beginne wieder von neuem, schreibt sie, und zählt die »Krankheits«-Symptome auf: die Geistesabwesenheit in allem, was sie tue; der qualvolle Schlaf oder Schlummer; die Albträume nachts; das Würgen in der Kehle; der Klotz (le nœud dans la gorge), hängt wohl mit Ersticken zusammen – allesamt Ausdrücke von Qual, nur nichts von Glück. Und bei mir dasselbe. Nur: »S'oublier à plus jamais, ça me paraît impossible« – das fügt sie auch an. Und sie bittet mich, worum? Um eine Galgenfrist. Damit wir unsere Sache machen könnten, sie ihre Examina, ich meine Arbeit, um zu überleben, schreibt sie, das heißt ja oder tönt ja, als würde man sich auf einer Rutschbahn zum Tode befinden. »Il faut survivre, Pablo.« Sie bittet um Schonung, Verschonung vor mir. (Als wäre ich der leibhaftige Zerstörer.) Liebe und Tod. Das gehörte aber schon immer zusammen. Warum? Weil man sich nicht richtig vereinigen kann und in dieser Prüfung erst recht die Einsamkeit oder Verlorenheit oder das drohende Ausgestoßensein zu spüren bekommt?
    Als ich sie, vor nun bald zwei Wochen, wiedersah, sagte ich, ich würde sie nun nie wiedersehen. Das ist ja auch wirklich merkwürdig, wenn nicht sinnwidrig, daß zwei dermaßen Liebende sich nur eines wünschen, nämlich: voneinander freizukommen. Ich hatte damals gedacht, daß ich es jetzt schaffen würde. Ich hatte nämlich erstmals in dieser Geschichte so etwas wie einen gewissen Abstand, also ein Anzeichen von Befreiung, verspürt. Ich hatte ihr Gesicht als ein mir zumindest beurteilbares, also wohl fremdes Gesicht erkannt. Anzeichen von Distanz und Loslösung. Aber die Distanz schwand gleich wieder in dieser unaufhörlichen
Vereinigungswut. Liebe, amour terrestre. So habe ich nie geliebt. So ernst, inständig. Wegmann meint, ich sei (auf einer Ebene zumindest) auf einen Pol, meinen Pol, gestoßen. Und sicher ist, daß ich seitdem zwar mit anderen Frauen wieder umgehen kann, aber irgendwie lieblos; immer das Unerreichbare (bei Odile) vor Augen. Bei Odile: dieses Ein-Gehen, An-kommen. Diese ganz und gar bedingungslose (auch selbstverständliche) Vereinigung, ein Einswerden, unbeschreibbar. Hingabe. Selbstaufgabe. Ist es das? Idiotische Wörter, die nichts besagen. Ist denn das vielleicht nicht Liebe, wenn man sich nie überdrüssig wird, wenn man nichts anderes mehr wünscht als damit fortzufahren, wenn man sich nie eine Sekunde auszulassen begehrt, wenn man die Münder nie entsiegeln, die sich aneinanderpressenden Körper nicht voneinander lösen und immerzu verschmolzen bleiben, eins bleiben möchte? Und wie ihr schöner Körper für den meinen geschaffen ist. Und wenn sie meinen Namen ruft beim Höhepunkt, in diesem überraschten, überreizten hellen wunderschönen Stimmton. Was ist denn das? Und dann hatte ich auf einmal erstmals das Gesicht oder die diesem Gesicht zugehörenden mir fremden Züge oder Eigenschaften distanziert wahrgenommen und so etwas wie Abstand verspürt. Aber das verging und schmolz wieder hin. Schmolz hin in den abertausend Zärtlichkeiten, die man außerhalb des Bettes austauscht: beim Gehen, im Taxi, in der Metro, im Restaurant, überall. Was ist denn diese fatale Anziehung, wenn man sich andererseits unbedingt befreien möchte?
    Â 
    Â 
    Paris
    Man verkauft auf allen Straßen Maiglöckchen (muguets). Es ist der Arbeitersonntag. Ich bin hundsallein. Immerhin habe ich seit gestern wieder einen sauberen, einigermaßen
geordneten Schreibtisch – und eben mit den vorliegenden Aufzeichnungen begonnen. Ich will mich jetzt in Regelmäßigkeit üben. Mich hinausschreiben. Woraus? Aus der Krise. Aus der Odile-Geschichte.
    Edgar Heim, Chefarzt der Psychoklinik »Schlößli«, meinte nach dreistündiger Unterhaltung, ich sei vermutlich wirklich unterwegs in die Einsamkeit einer neuen Schaffensphase zumindest, einer entscheidenden Runde. Meine Odile-Geschichte sei ein Überkippen vom Kalten ins Warme bzw. Heiße gewesen. Es wäre eine Angstreaktion oder ein

Weitere Kostenlose Bücher