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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Angstreflex gewesen.
    Es scheint ja wirklich, daß ich mit dem Stolz etwas beendet, auch umgebracht habe – meine ganze bisherige Existenz, die pessimistisch-nihilistisch eingestellte, aber trotzdem empfindsame Jugendexistenz, den jungen Nizon, den letztlich desinteressierten, zukunftslosen (?). Woher den neuen nehmen? Beim Schreiben des Stolz war mir ja keineswegs bewußt, wenigstens anfangs nicht, daß es ein Buch der Lebensverneinung, des In-sich-selbst-Erfrierenden, des Kommunikationsunfähigen, des untergehenden jungen »Helden« werden würde. Ich dachte immer, ich sei nicht mit jenem identisch. Aber nun ist all das, was ja schließlich auch aus mir heraus in das Buch geflossen ist, in mir selber zum Ausbruch gekommen. Die Depression zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Stolz war eine Vorwegnahme meiner jetzigen Krise, die möglicherweise lebensgefährlich war – und es vielleicht noch ist. Jedenfalls ist eine Totalrevision mit mir im Gange, und die Frage ist, ob ich sie bestehe. Günstiges Anzeichen: Ich notiere wieder. Ich bin dabei, mir wieder Gegenstände zu schaffen. Während ich die ganzen letzten Monate nicht mehr fähig gewesen bin, auch nur einen Brief zu verfassen. Kreiste nur immer in meinem Depressionsloch oder hockte herum, rauchte und soff und besprach mich und mein Elend mit anderen.
    Vorgestern noch tapste ich so verloren in den Pariser Straßen herum, mit einem Gesicht, dessen Züge mir ständig zu entgleiten drohten vor Traurigkeit und drohenden Tränen, und nichts antwortete mehr von der Straße her, nichts nahm mich an, ich hatte keinen eigenen Motor mehr, kein Eigenleben, keinen Stützpunkt in mir und dabei das Gefühl, daß ich alles verlassen, keine Heimat, keine Angehörigen mehr hätte.
    Heute setzte irgendwann, so schien mir wenigstens, der Atem in der Welt und Umwelt wieder ein und nahm mich auf in seine Zirkulation. Alles wieder von Atem bewegt, die Metrokonstruktionen, da wo die Bahn überirdisch fährt, die Bäume, der Abfall, der die Straßen säumt … Als setze ein Uhrwerk oder der Pulsschlag wieder ein. Vordem. Da war nur Häufung von Dingen, toten, schalen, geworfenen Dingen. Die Häuserfronten, die Häuserfluchten – geworfener starrender Stein. Die Kehrichthaufen, die von den streikenden Abfuhrmännern stehengelassenen, waren nur Petrefakte von Abfall, genau konturierte und in ihrer Abfallhaftigkeit aufs grausamste in der Konturierung anzuschauende Häufungen von Unrat, toten Materialien, verbrauchtem, dinglichem Schmutz. Überhaupt eine Schmutzschicht über allem. Die Geschäfte, die Auslagen, das Trottoir, das von mir als Lebensufer so vielgeliebte, es war alles wie metaphysische Malerei: kalte Unwirklichkeit. Und mein Fuß ging durch diese Glaswelt, die mich anstarrte. Es war Totenland, mitten am Tag. Oder Mondlandschaft. Und ich in der Isolierung von allem, auch tot, in einer abgrundtiefen Traurigkeit, herausgefallen aus allem Zusammenhang, alles unerreichbar, unerreichbar dem Herzen und seinen Fühlern und Fingern. Und ich wußte, daß nirgends, auch da, wo ich herkam und hingehörte, mich etwas anderes erwarten würde, wußte, daß ich rettungslos allein war. Auf der Welt.
    Und das Zimmer in der rue Simart genauso. Was tun in den
plötzlich so unnütz leeren Räumen. Wo sich unterbringen, unterschlüpfen? Nichts.
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    Und jetzt dieser Brief von Odile, der mir schildert, was ich auch empfinde: daß sie denkt, sie könne vergessen, aber es ginge nicht, und dann frage sie sich wieder: Was ist denn das? Bloß sexuelle Passion (was wir zusammen haben)? Sie schreibt, sie möchte mich kennenlernen, mich sprechen hören, wo ich doch so gut zu »singen« vermöge … Und was bleibt, bei alldem, ist dieses Reißen, dieses Gequältbleiben, Unglücklichsein, Absorbiertsein, aber ohne Erfüllung. Und am selben 9. ist Marianne nach Berlin gereist, auch in ein Einsamsein; und ich habe noch in selbiger Nacht am van Gogh weitergearbeitet.
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    Irgendwann vor langem hatte ich den Gedanken, wieder allein zu leben – und war erschrocken. Denselben Gedanken hatte ich einmal mit Brigitte, meiner ersten Frau, gehabt. Wenn derlei erst einmal denkbar wird, dann beginnen auch allerlei Impulse und Imperative darauf hinzuarbeiten. Und dann diese traurige Sache in Rom. Marianne konnte auf ihren hohen Schuhen nicht

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