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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Schreibens bewußt – eines Schreibens ohne Position nach vorn, eines schlimmstenfalls nur privaten Schreibens (im – gesellschaftlich – leeren Raum, würde Farner sagen). Und nun mußte ich mir vor Augen führen, daß ich für eine lächerlich kleine Minderheit diese meine »Privatwelt« ausbreite. Daß die überwältigende Mehrheit auf Erden nach anderen Kriterien und Bedingungen lebt; sie befindet sich, nach unseren Begriffen, im Aufbau, sie ist vital-überlebensgierig motiviert. Eine Menschheit, mit der mein Realitätserlebnis überhaupt nichts gemein haben kann, fürchte ich: weil dort der Individuumsbegriff keine Rolle spielt. Dort ist alles Masse, also gigantisches Kollektiv, naturausgeliefert, fatalistisch. In meinen Augen: ein vergifteter Paradiestraum. Ich wurde gleich zu Anfang in eine ganz und gar andere Welt hinein »verhext«, ja. Die mit mir nichts zu tun hat und die sich für mich nicht interessieren kann. Das alles wäre viel weiter auszuführen. Jedenfalls zog mir dieses Erlebnis weitere Stücke eines fragwürdig gewordenen Bodens unter den Füßen weg. Eine weitere Relativierung war das.
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    Ja, und dann war da die Stimme, ihre Stimme, in meine beiden Ohren drang sie ein (ich hatte den Kopfhörer zusätzlich zu Hilfe genommen), und das ungeduldig-lebhafte, innerlich glücklich schwingende »Attends … je vais changer d'appareil …«, sie will zum anderen Apparat, und dann ist der Kreislauf wieder da, und wir fragen uns, wie es uns ge
he, und beide sagen wir, es gehe uns gut, und ich frage, hast du meinen Brief bekommen damals? Sie: Welchen, den vom Juni? Oh ja …
    Ich sage, ich entschuldige mich dafür (ich hatte geschrieben: Je t'aime et je te déteste …), ich sei damals noch verrückt gewesen, und sie sagt: Nein, nein, ich weiß jetzt, was damals war, du hast einfach den falschen Moment erwischt mit deinem Ultimatum, ich war so voller Angst um meine Studien. Und sie habe auch einmal in Zürich angerufen, aber niemand habe abgenommen. Und dann sagt sie noch, sie habe jeden Tag an mich gedacht, chaque jour …
    Und sie fragt, ob ich nun geschieden sei, nein, aber ich lebe hier, sage ich, und hätte keine Niederlassung mehr in der Schweiz, und Marianne käme von Zeit zu Zeit, mich besuchen. Und sie bemerkt, dann bist du ja jetzt eingerichtet in Paris, und ich sage, ja, du wirst ja sehen, und sie sagt, sie lerne wie verrückt, Sprachen, lese Romane, ja, Romane, lacht sie, und ob ich schriebe. Ich schriebe an einem großen Roman, sage ich; wie lange es dauern werde? Ein Jahr, sage ich. Oh, ein Jahr … Und sie sagt, sie werde drei Jahre für ihre Sprachstudien brauchen, und in den Ferien war sie auch nicht, sie hat gearbeitet. Ich sage, drei Jahre, nun, ich habe dir ja gesagt, du sollst auf mich warten. Und in diesem Ton reden wir, und ich merke, daß alles noch ist wie je, unversehrt. Und ich weiß, daß ich jetzt wieder in ihren Gedanken kreisen werde. Eines Tages werden wir uns das alles sagen.
    Ich weiß jetzt auch, was unsere Angst, unsere Fluchttendenz war. Wir hatten so fürchterliche Angst vor dem Beginnen, weil wir wußten, daß unsere Liebe unaufhaltsam, vielleicht verheerend sein würde, und wir waren noch nicht bereit: sie noch ohne Beruf; und ich noch nicht wieder in einem neuen Roman, ohne Anker, ja, es war der falsche Moment, aber wir wußten im tiefsten Grunde, daß wir auf uns
warten würden, daß nichts vorbei sei. Allerdings hatte ich Angst vor einem möglichen Erkalten, vor einer immerhin möglichen Abwendung, wenn ich auch doch wohl nicht aufgegeben hätte.
    O sie ist für mich geschaffen .
    Ich glaube, ich habe diese Gewißheit des Füreinanderbestimmtseins in meinem ganzen Leben noch nicht gekannt. Oft verspüre ich aus ihrer Stimme dieses innerliche Triumphieren, eine Gewißheit, ein Glücksgefühl, das mitschwingt. 
    Ich weiß jetzt auch, was es bedeutete, wenn sie, den Kopf verlegen nach unten gesenkt, auf mich zukam, ein Gang wie zum Schafott, dachte ich immer oder was? gehemmt? schlechten Gewissens? Nein, es war eine Art Opfergang, weil sie spürte, daß sie (ohne oder entgegen ihrem eigenen Willen) sich einem höheren Gebot unterzog, wenn sie kam.
    Wir haben aufeinander zu gelebt, diese ganze letzte verrückte Zeit. Wir bereiten uns vor, nicht auf einen Kampf, sondern

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