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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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auf dieses gemeinsame Leben, diese »vie à deux«.
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    Meine Schwester teilt mir am Telefon mit, mein einer Onkel sei gestern gestorben. Ich bin hier in Paris in einer schrecklichen Lethargie, wohl auch Depression. Untätig, vor mich hin stierend, nur annähernd »normal«, wenn ich mich bewege, das heißt einen Gang unternehme, zusammen mit Marianne (wenn sie zu Besuch ist). Dieser Zustand datiert seit einem Monat, seit ich in Bremen zur Lesung und danach auf einen Sprung in London war. Odile. Die Geschichte ist tot. Sie hat mir am Telefon in letzter Minute mitgeteilt, daß sie zwar nach Paris käme, mich aber nicht sehen werde. Aus. Ich habe das alles nicht einmal besonders tragisch aufgenommen, war selber erstaunt über meine relative Gelassenheit. Denn ein Wohnen mit ihr zusammen in diesem Schachtelzimmer oder auch anderswo schien mir schlicht
unvorstellbar. Angesichts dieses Verlaufs der Dinge fühle ich mich sogar einigermaßen erlöst. Trotzdem ist dadurch wohl meine Niedergeschlagenheit mit bedingt.
    Elisabeth Plahutnik war acht Tage hier, nach meiner Rückkehr aus London. Anschließend bin ich im Wagen nach Zürich gefahren, habe in Mariannes Wohnung an der Schönfeldstraße gewohnt (und getobt), später sind wir zusammen im »Manfred« (wie ich den alten Fiat nenne) hierher gefahren. Seitdem Lethargie, Untätigkeit, Traurigkeit. Du schaust so unsäglich traurig vor dich hin, heißt es immer wieder von seiten Mariannes. Ich merke es selber gar nicht mehr. Wenigstens bin ich mir nicht bewußt, sonderlich traurig zu sein, bloß dumpf, müde, ohne Energie, ohne alle Lust. Schlafe viel und lange. Vielleicht bin ich doch aus einem Traum abgestürzt. »Das Jahr der Liebe« soll das neue Buch heißen, habe ich noch in Zürich bestimmt. Also kein Ich-Buch, sondern eine »Erfindung«.
    Ich habe in diesem Jahr 1977 mit Hilfe Odiles und dieser Geschichte nicht nur mein Leben ganz und gar verändert, sondern wirklich und wahrhaftig etwas versucht (und bin abgestürzt?). Was versucht? In eine andere Dimension zu gelangen? In die Liebe (was immer das bedeuten und beinhalten mag) – ins Leben statt ins Schreiben.
    Das Thema wäre: daß die Liebe nicht gelingt. Und daß man im Ermessen des Scheiterns die definitive Einsamkeit erfährt. Wenn es so ist (wie ich zusammen mit Elisabeth zur Einsicht gekommen zu sein meine), daß nämlich meine Geschichte mit Odile eine schöpferische Wuttat, eine Kreation war. Wenn also ich der Autor dieser Geschichte sein sollte und Odile Reflektorin dieses schöpferischen Wutanfalls im Leben, dann würde das bedeuten, daß ich nichts verloren habe, daß der Traum bei mir geblieben, mir verblieben ist, daß nicht Odile die einmalige Chance und Anzünderin war, sondern nur die begnadete Mitspielerin; es wür
de bedeuten, daß ich grundsätzlich den Traum wiederholen, das Paradies noch einmal erfinden könnte. Ich hätte nichts verloren.
    Es würde aber ferner bedeuten, daß ich mit dieser Geschichte versucht hätte, ein anderes Leben zu wählen , und daß dieser Versuch (vorläufig) gescheitert wäre. Ich wurde zurückgestoßen – auf mich zurückgeworfen. Das Land der Liebe oder der Tod (wie ich früher meinte) hätte mich noch nicht akzeptiert. Und nun wäre ich zum zweiten Mal – nach Rom – zum Künstler geworden, aber nun viel radikaler als damals und als je zuvor. So gesehen, wäre die Odile-Geschichte auch der Versuch gewesen, von meinem einsamen Auftrag als Dichter freizukommen. Um im Leben zu weiden statt des alten Karrengauldaseins, wie van Gogh es ausdrückt. Aber wo wäre dieses Leben?
    Etwas ist auf das Vehementeste versucht worden. Etwas ist grauenhaft gescheitert, besser: gestorben. Und etwas (oder ich?) ist im Begriff geboren zu werden. Ich habe alle Brücken abgebrochen. Nun bin ich hier. Der Exodus war viel folgenschwerer als angenommen. Alle Geborgenheiten aufgegeben. Habe ich das Weite gewonnen? Jedenfalls ist da überhaupt keine Rückzugsmöglichkeit mehr, das spüre ich sowohl mit Grauen wie mit Beflügelung.
    Ich habe das Weite gesucht und die Einsamkeit oder einen Kern gefunden. Wenn bis dahin mein Schreiben immer noch irgendwie freiwillig oder spielerisch gewesen sein sollte, so ist es jetzt – von der Motivation her – todernst und ausweglos und wohl also notwendig

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