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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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die Straße überqueren und beim Näherkommen den Hirten an der Spitze, er führt den Widder an einem Strick, die Mutterschafe trotten oder wabbeln brav hinter
drein, ein einziges Junges, schwarz in all den grauweißen, springt nebenher. Die Herde hat die Straße verlassen und ist dabei, einen Abhang hinunterzusteigen, aber oben am Straßenrand ist ein Schaf zurückgeblieben, ein Lämmchen ist neben dem Muttertier zu erkennen, aber warum folgt dieses eine Schaf der Herde nicht? Es läuft blökend oder bähend immerzu am Rand des Abhangs und dann wieder zurück, das kleine weichbeinige weichgliedrige Wollwesen immer nebenher, und wie dieses Mutterschaf der weiterziehenden Herde nachblökt, das ist, vom Profil des Mauls und Kopfes, ganz und gar inbildlich und beim Näherfahren erkennen wir den Grund oder die Ursache des Verhaltens und zwar mit Beschämung, mit Schrecken. Am Straßenrand, nah an einem Meilenstein, und im Helligkeitsgrad kaum von dem weißlichen Stein zu unterscheiden, liegt ein weiteres Lamm mit erschreckend abgewinkeltem Bein, könnte es sich wohl gebrochen haben. Darum das hilflose, hilfesuchende, hilfeblökende, fassungslose, aufgeregte Betragen des Mutterschafes. Es ist hin- und hergerissen zwischen dem verunglückten Jungen und der Herde, die weiterzieht, Widder und Hirt am Kopfe des Zuges. Das war kein Guter Hirte. Aber die Szene biblisch wie diese Landschaft, wie der Sonnenuntergang etwas später mit der roten Sonne im Glorienschein, wie dieses Offenbarungsauge. Dann erloschen die Hügel.
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    Wenn wir eine Woche am Ort bleiben, das heißt ohne Ausflug und Abstecher, ohne Milieuwechsel ansässig bleiben, bekommen wir einen echten Koller. Odile sagt, sie wünschte sich Ablenkung von diesem Denken an die Liebe oder diesem In-Liebe-Gefangensein; daß etwas Äußeres, Äußerliches geschähe. Zwischendurch immer denkt sie ans Sterben, an ein Doppelsterben, weil uneingeschränkte Liebe
ohne Einbuße durch Alltagsbeschäftigungen oder Arbeit nicht zu halten und nicht zu steigern und nicht auszuhalten sei. Wenn man einzig der Liebe zu leben versucht ist, entstehen diese Fallhöhen, Verzweiflungen.
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    Die erste Nacht in diesem Hotel für christliche junge Männer (das mir Elisabeth besorgt hatte) war gespenstisch, wenn nicht romanhaft, irgendwie will sich mir das mit Kafkas Amerika überlagern. Unten lungert hinter dem schmutzigen, aber gepanzerten Empfang ein kräftiger Kerl, weitab auf einem Stuhl sitzt ein einzelner Schwarzer. Ich versuche mich mit dem Lift zu verstehen. Ich habe ein kleines Zimmer, aber mit Farbfernsehkiste, Flimmerfilm zu jeder Nacht- oder Morgenstunde. Gefühl von Drohung und Gewalt. Waschraum mit vielen kleinen Lavabos, die sich in meinem Geist mit Pißschüsseln vermischen. Das Zimmer geht auf einen eisengegürteten Hinterhof, schmutzig brauner Backstein, die Feuerleitern, im Waschraum anderntags ein paar Männer bei ausführlicher und ungenierter Toilette.
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    Mit Elisabeth zur Wall Street und da erstmals die Wolkenkratzerhöhe und die entsprechende Verschattung empfunden und das Businessleben, und fashionable Bars gibt es da, und dann mit der Fähre rüber und beim Zurückfahren dieses Empfangskomitee der Wolkenkratzer, dieser Zähne und zackigen Zahnreihen gesehen, nachts durchlöchert von den Lichtern der Fenster, das ist wie wenn sie mit Licht gefüttert wären, und dabei denkt man immer an die Einwanderer, wenn man mit der Fähre – seitlich grüßt die Freiheitsstatue – auf dieses Panorama zu- und losfährt, die Neue Welt.
    Während meines Besuchs im »Woodstock«-Hotel brach un
ten Feuer aus, und der Rauch wallte an den Fenstern des Hotels hoch. Man hatte Berge von ausgedienten Matratzen aus dem Haus befördert und für die Abfuhr bereitgestellt. Irgendein Passant hatte Feuer gelegt, und nun brannten diese mit soviel Angst- und Nachtschweiß, Blut, Auswürfen und anderen Ingredienzien durchtränkten, nach Menschenfleisch stinkenden, fauligen Matratzen, und der Brandgeruch hatte tatsächlich etwas von verbranntem oder angesengtem Fleisch.
    Und dann hinunter in die Subway, in diese andere eisenstarrende Unterwelt. Ich sage eisenstarrend und meine die vielen Träger, schwarzeiserne Stützpfeiler, die die häßlichen Decken tragen. Da unten herrscht ein wahres Gittersystem, die schwüle Luft

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