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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ist vergittert, der unterirdische Raum mit seinen Passanten in lauter eiserne Zellen gesperrt, und wenn die Züge daherdonnern, tönt es, als zerrten Millionen von Eingesperrten an den Stäben und rasselten mit Handschellen.
    In New York wird die Unterweltfinsternis mit Eisenschwärze schraffiert, ich habe an Gefängnisse und Schlachthäuser gedacht. Dagegen sind die blechernen Züge in ihrer vandalischen Bekleckerung, Bemalung, Vernutzung und Verwilderung wunderbar gastfrei, natürlich vor allem im Innern. Nie habe ich diese Form von »Freiheit« oder soll ich sagen, von Sichgehenlassen? und, ja, von Gleichheit empfunden wie in den Wagen der New Yorker Untergrundbahn oder Subway.
    Zwar herrscht so gut wie keine Kommunikation unter den Fahrgästen, aber die für die Gefahrenstrecke einer Fahrt zusammengewürfelten und -gepferchten Menschen verhalten sich, als hätten sie allen Ehrgeiz, alle Not und alle Unterschiede – der Klasse, des Ansehens, des Vermögens, des Intelligenz- und Bildungsgrades und Titels, der Hautfarbe, der Religion, des Geschlechts und des Alters – vergessen;
als hätten sie ihr Privatleben, ihr Leben oben deponiert und liegengelassen. Sie wirken merkwürdig entkleidet, entbunden, entwöhnt; und enthemmt.
    Einmal mit einem am Boden liegenden Schwarzen gefahren, der nur ab und zu wie in konvulsivischen Zuckungen nach der in Armeslänge torkelnden Flasche grabschte. Weiß der Himmel, wie lange er schon in dieser Lage transportiert wurde, aber niemand kümmerte sich um ihn, man übersteigt diese Packung Mensch vorsichtig wie eine tickende Bombe, nur nicht anrühren, man vermeidet es, ihn auch nur mit einem Blick zu streifen, es könnte ja, durch den Kontakt entzündet, etwas weit Schlimmeres aufsteigen und ausbrechen als nur der Geist aus der Flasche.
    Da ist man wirklich zur Disposition gestellt, in diesen rüttelnden Wartezimmern, die mit ihrer Menschenfracht voller Schreckenserwartung so monoton unter Tag dahindonnern.
    Und oben starren die gigantischen Latten aus Stein maßstablos zum Himmel, den sie kratzen; bilden diesen unglaublichen Zaun der Zähne vor einem Äther, in dem die Flugzeuge wie Fliegen erscheinen, wenn sie das bleckende Gebiß überfliegen. Und nachts, etwa von der Rainbow-Bar des Rockefeller Centers aus, erscheinen sie als lichtdurchschossene Waben in einer Art Unterwasserschwärze, unwirkliche Waben, Korallengebirge, und den Trinker erfaßt eine eisige Einsamkeit da oben in seiner Glasglocke von Bar, da hilft kein Alkohol, er könnte ebensogut in einer Raumstation hocken irgendwo im Weltall, angeschnallt auf einem Barstuhl, umgeben von diesem Raumton, der sich ins Gehirn bohrt: extraterrestrisch.
    Unten sind die Straßen kaputt, ganze Viertel legen sich hin wie sterbende Saurier, die sich selbst überlebt haben, legen sich hin und in Falten und Schutt. Und die Subway deportiert immerzu Millionen von Menschen durch den an den
Stationen eisenklappernden Untergrund, um sie irgendwo an einer dieser namenlosen, bloß numerierten Straßen wieder an den Tag zu schaufeln; in der Bahn drinnen aber herrscht die lässigste Nonchalance (nach außen), da ist einfach alles möglich an Aussehen und Auftreten oder Benehmen, und niemand kümmert sich um den andern, auf diesen stummen Parties, wo man nebeneinander und sich gegenüber sitzt, während der Zug durch die Schwärze saust, Schwarze und Puertorikaner, Mexikaner, und der feine Herr aus Boston, Nackte und Kostümierte und welche im Pyjama, und die Allerfettesten, die man je zu Gesicht bekam, sitzen da und hoffen nur eines: wieder empor- und anzukommen oder auch nur: mit dem Leben davonzukommen, das sie oben abgegeben haben, sitzen scheinbar entspannt da in der allergrößten Freiheit und Gleichheit und ohne jedes Interesse.
    Und in den Straßen, den kaputtesten Straßen der Welt voller Löcher, Fallen und Gruben, so daß die Wagen wie Schiffe bei hohem Seegang daherschaukeln, das wird in Filmen nie gezeigt, dieses Schaukeln – nie so kaputte Straßen gesehen; da unten latschen die Leute in der gemütlichsten Gangart, im Negligé daher, an der Büchse Cola oder Bier suggelnd, den brüllenden quietschenden Transistor unterm Arm.
    Und dann werden wieder ein paar von ihresgleichen ins Weltall geschossen, es werden die allerhöchsten Wolkenkratzer, das Schwanken mitinbegriffen, errichtet, der höchste

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