Die Belagerung der Welt - Romanjahre
schwankende Turm aller Zeiten, der die Bevölkerung einer ganzen Stadt faÃt, Rekordturm, und die Filmindustrie macht sich daran, diese Leistung zu allerneuesten nie gesehenen Horrorzwecken auszubeuten, das zieht wiederum Millionen in die Kinos; und unten auf ebener Erde in den Schluchten dieses Betongebirges das zuckende Fleisch in den Orgien des Sexus, des Rocks und des Punk, der Mordlust, und das Winseln der Polizeisirenen und die Brunftlaute der zu
Feuerbrünsten aufgebotenen und bestellten glänzend schönen, kinderbuchschönen Feuerlöschwagen, bemannt.
Und dann dieses Hotel »Woodstock« an der 43 rd Street, West; der Reigen der Alten in der Empfangshalle, dieses stumme Bild eines angehaltenen und jetzt schon verewigten Lebens, das den Besucher berührt wie die in immer derselben Rille drehende Grammophonplatte oder wie ein Alptraum oder wie der Mythos vom Sisyphos. Der Stall- und Fäulnisgeruch. Und die eisigen, im Sommer wohl brütend heiÃen Katastrophenstockwerke von der siebenten Etage an aufwärts.
Eines ist gewiÃ: Vom »Woodstock« aus erscheint alles anachronistisch, antiquiert, was noch vom alten Europa übrig ist und uns vorschweben mag â ein italienisches Landstädtchen wie dieses hier zum Beispiel, auf das man über gewundene StraÃen zufährt, hügelauf und hügelum, teils von torkelnden Zypressen begleitet oder von schräg abfallenden Ãlbergen, die Blätter der Olivenbäume, silbern und schattig, dunkeln im leichten Wind wie die zwei Seiten der Medaille, und immer die erlesene Silhouette eines solchen Städtchens vor Augen, das auf einer Hügelkuppe mehr wie ein Inbild schwebt als steht, der Umrià hat das zimperlich Gespreizte eines groÃen Vogels im Nest, vielleicht eines Kranichs, der seine Schwingen über die Brut breitet, und der Hals wäre der Glockenturm, der Campanile, aber beim Näherkommen nimmt das In- und Wappenbild Gestalt und Mauern an, es sind die Fassaden alter bröckliger Palazzi, und dann der Platz, wenn man einfährt, mit dem Denkmal in der Mitte, der Platz wiederum von alten Fassaden umgeben und die zwei Bars und eine mit dem T für Tabacchi; die knöcherne Stille des Alters, einesteils schon fast pergamenten und durchsichtig, das Alte, andererseits echte Civiltà , wenn auch in der Provinz. Die Menschen sind hier keine Enthemmten, lutschen keine Cola oder Bier aus der Büchse im Gehen, sie sind strenge Zivilisten und Borghesi,
und die Jungen, die Vitelloni, in der Bar oder in Gruppen vor der Bar drauÃen auf dem Platze, träumen und sehnen sich mit allen Fasern hinaus aus diesem abgelegenen, altersstillen schönen Ort, hinaus in die Welt, zum Beispiel nach New York, das sie vom Kino her kennen und verehren.
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Heute habe ich vom Notar einen Scheck bekommen â meinen Restanteil vom Erbe der Tante. Damit habe ich hier erstmals ein positives Konto und Lebensmöglichkeit.
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Ich lese wieder â jetzt als Begleitlektüre zu meinem neuen Pariser Buch â Ein Held unserer Zeit von Lermontow. Dieser Protagonist ist auch eine Schlüsselfigur für mich. Als seine Eigenschaften werden Melancholie, Lebensverachtung, MaÃlosigkeit, Leidenschaftlichkeit, Aufbegehren gegen Gott und die Welt erwähnt. Im übrigen gehört er in die Reihe jener Frühvollendeten oder auch Selbstmörder im jugendlichen Alter (Engel?) wie ein Trakl, Büchner, Heym, Lenz. Lermontow starb im Alter von 27 Jahren bei einem Duell. Er starb an Langeweile oder Unterernährung in punkto Schönheits- oder GröÃengier oder Liebeshunger. Er ähnelt dem Herrn Nagel aus Hamsuns Mysterien  â eine dieser Figuren, die höchstens ein Gerücht hinterlassen, ein unerhörtes Gerücht oder Exemplum. Sein Zuschnitt paÃt nicht in die Gegebenheiten seiner Zeit und deren Gesellschaft. Die kommen schon irgendwie vergiftet zur Welt, traben als merkwürdige, unverdauliche Herausforderer eine gewisse Strecke ab und verschwinden wieder. Es hat ihnen nicht gefallen. Aber sie hinterlassen einen Mythos.
Als ich ein Jüngling war, fungierte Niels Lyhne als Identifikations- und Leitfigur für mich. Später war es ein Herr Nagel, aber auch mit dem Weltschmerz-Werther hatte ich im
Schulalter innerlich zu tun. Ich frage mich, ob meine Affinität zu Frühvollendeten oder trotzigen Frühabgängern damit zu tun haben könnte, daà auch ich im
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