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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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selbst.
    Es ist prall zum Zerspringen, und es hat, was neu ist, nicht nur Dialogisches, sondern sogar Humor. Der Humor, so scheint mir, ist hier das Resultat oder der Nebeneffekt von echter Verzweiflung. Und der Humor ist auch das Händereichende, Menschliche darin. Ein traurig-lustiges Buch, jetzt nicht nur von der Einsamkeit handelnd, sondern diese auch aufbrechend, wohin?

London
    In Paris habe ich wohl alles Mögliche an Glanz, Hoffnung, Flitter verloren, aber ich habe diese poetische Existenz gefunden, die ich verteidige und für die ich bezahle, unter anderem mit Einsamkeit.
    Der Arzt meinte, mir fehle nichts, meine Herzbeschwerden seien zwar bestimmt echt, letztlich aber imaginäre Beschwerden, es handle sich um das nervöse System. Valérie meint, das Ganze sei der Rückschlag auf die zwei schwierigen Jahre, die ich hinter mir habe, auf Einsamkeit, Herzeleid, Altersangst; und jetzt erst, da ich Ruhe hatte, also in einem Hafen angekommen sei, komme der Rückschlag. Außerdem sei der ganze Druck, den ich auf der Brust zu spüren vorgebe, sei die Beklommenheit ein Ausdruck jenes Druckes, unter welchen ich ja immer noch meines Buches wegen gesetzt sei. Und dieser ist ja in der Tat nicht unbeträchtlich, es ist Ende Februar, das Buch ist angekündigt, aber noch nicht geschrieben, das kann einen schon beklemmen.
    Der Ruf Wo ist das Leben? mag gleichbedeutend sein mit Themenlosigkeit, Heimatlosigkeit, ideologischer Standpunktlosigkeit. Das einzige, was ich alldem entgegenzusetzen habe, ist mein Poetenleben, zu welchem eben dieses Inkubationszimmer gehört, und vordem die Selbstversetzung nach Paris. Dieses »Amt«. Aber vielleicht glaube ich nicht einmal daran. Und vielleicht gehört zum Verständnis der Pariser Situation und der dazugehörigen relativen Larmoyanz, daß ich die Scheidung in Zürich einflechte und die Liebe, Liebesvergiftung hereinhole. Denn etwas habe ich wirklich gewonnen im Sinne einer Öffnung, und das ist Menschlichkeit; Menschenzugewandtheit, was sich ja auch in den dia
logischen Ansätzen ausdrückt und überhaupt in der kunterbunten Teilnahme an Figuren, Gestalten.
    Â 
    Habe dieses Paris-Gefühl gehabt, mein Gefühl schwang sich an den hellen zuckrigen Fassaden, Steinbrüchen der Straßen, die alle in den Himmel langen, empor, und im Emporschwingen empfand ich dieses Meer- und Schaumgefühl, die Trunkenheit, Freiheit. Das innere Sprühen.
    Â 
    Â 
    Im Traum sagte ich zu meinem Nebenmann, in einem Zugabteil und möglicherweise nach einem literarischen Meeting: Ich hätte das nie gedacht, daß ich beim Binden meiner Schuhbändel oder Schnürsenkel hören könne, was anderswo gesprochen wird. Ich entdeckte unverhofft, daß ich die Gabe hatte, meine Schuhbändel abhören zu können wie ein Tonbandgerät, sie übermittelten mir, was in der Ferne vor sich ging.
    Später befand ich mich, es handelt sich um eine weitere Traumphase derselben Nacht, in einem Saal von allerhand Ausmaßen, es waren jetzt viele Leute da, wie auf einer Party, und unter all den Gästen fiel mir ein schönes Mädchen auf, ein sehr sanftes und tadellos aufgemachtes Mädchen, das allerhand rasche Auftritte und Begegnungen hatte, als suche sie wen, und nun steht es plötzlich bei mir und sagt: Gerne, Herr Nizon, aber nur unter der Bedingung, daß ich ihren Penis schlecken darf, sagt's und nimmt mit ihren herrlichen Händen mit den schön gelackten Nägeln meinen Penis und führt ihn zart zum Mund, der mit diesem fetten modisch glänzenden Lippenstift geschminkt ist. Sie hat gedankenvolle scheue glänzende Augen; und eben danach träumte mir, wie mir jetzt einfällt, von dem Flugwunder.
    Â 
    Â 
    Ich konnte fliegen und zwar unter Zuhilfenahme eines Blatts Papier. Es war nicht gerade ein Packpapier, aber auch kein aus einem Schreibblock stammendes gewöhnliches Blatt, etwas dazwischen, und ich war platt vor Staunen und gleichzeitig selig, daß ich mich mit meinem Papier aus dem Stand in die Luft schwingen, emporschrauben und dahinsegeln konnte. Leider erinnere ich mich nicht mehr, wie ich es schaffte, vom Boden abzuheben, obgleich ich es im Traum immer wieder ungläubig rekapitulierte, es war ein an Zauber grenzendes Kunststück, und in der Luft hielt ich mich an dem Blatt wie an einem Drachen fest, ich überflog ein Revier, groß wie ein Dreiländereck, in der Höhe von 2000 Metern

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