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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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der Kriegs- und Vorkriegszeit Deutschlands, es war ein entsprechendes Befremdetsein, ein leicht grausliches. Dazu die Stimmung der Eingeschlossenen. Schließlich waren die Leute, die ich da nach diesen vier oder fünf humorlosen Kontrollen auf der andern Seite des S-Bahn-Bahnhofs antraf, eben dieselben Eingesperrten, die ich von der Mauer aus hätte wahrnehmen können, es gibt ja Stacheldraht und bewaffnete Posten zu sehen, und es wird geschossen. Also ein Gefühl wie in einem KZ oder Lager: Irgendwie denkt man auch ans eigene Wieder-Hinauskommen. Nun, das ist leicht übertrieben, klar, aber es war ein Gefühls-Anteil.
    Vom Alltagsleben oder Straßenbild aus habe ich – aber vielleicht nur ich als Ausländer – ähnliche Gefühle wie damals nach dem Krieg in Aschaffenburg und ähnlichen Städten und auch noch wie in Prag: Reservate einer Vorkriegsmentalität und altväterlichen Spießigkeit. Diese Leute leben in einem Gemisch aus ungelüftetem Deutschtum und diesem spießigen Parteimoralin (stelle ich mir vor); dasselbe kommt im Wirtshaus zum Ausdruck, Speckrolle mit Krautfüllung und einer Art Kraut- und Rübensalat oder Eisbein oder Schweinekamm, alles auf dem Teller serviert, das Wirtshaus kahl und allzu heimelig, Kantine, die Preise sozialistisch niedrig, Rauchen verboten, die Stimmung jedenfalls nicht ausgelassen oder fröhlich, nicht frei. Es kam aber auch zum Ausdruck in der Polizeiallanwesenheit, dieser Überwachung, der Haltung der Wachsoldaten vor dem Ehrenmal des Unbekannten Soldaten und Unbekannten Widerstandskämpfers, Stechschritt, übrigens meint man das treudeutsche Kauderwelsch der volksväterlich verbreiteten Stimmungsmache (der Partei) mitzuhören. Die Bauten im allgemeinen freud
los und nach wie vor kriegsversehrt, daneben sowjetisch inspirierte großmannssüchtige Hochhausarchitektur. Ich war mit D. auf dem Friedhof unmittelbar neben dem Bert-Brecht-Haus, Dorotheenstädtischer Friedhof, sah die Gräber von Brecht und Weigel und Heinrich Mann, Fichte und Hegel und noch paar anderen Größen. Ein bescheidener Friedhof. Ich spazierte Unter den Linden mit den Prachtbauten Schinkels, Brandenburger Tor, sah Pergamonmuseum und Deutsches Museum und Nationalgalerie und Staatsbibliothek und von weitem die Charité und einiges mehr. Ich war in einer Ausstellung von Menzel, toller Porträtist vor allem, sah auch Liebermann, verstehe, warum letzterer oder beide den jungen van Gogh beeindruckten, da ist auch das soziale Element, Hans von Marées, Thoma, Böcklin und Segantini, sogar einen Goya gesehen. Ich schaute mich mit einem geradezu märcheninnigen Behagen in diese durchaus qualitäts- und gehaltvollen Antiquitäten ein. Ich empfand aber auch Respekt vor dem »familiären« Aspekt dieses sozialistischen Systems und Alltags, da hat man offenbar eben den Zusammenhalt ganz anders als bei uns, weil man unter der einen Doktrin sehr fühlbar steht und von ihr aufgerufen ist, man ist dabei, für oder gegen, aber weniger anonym als bei uns, stelle ich mir vor. Mietpreise lächerlich niedrig, alle Sozialleistungen eindeutig, keine Verwahrlosung und Katastrophen- und Panikstimmung möglich wie in New York oder auch Westberlin, nur das Angebot der Güter sehr beschränkt, wenn man nicht zur Privilegiertenschicht zählt; und diese ewige Dauerpredigt vom Volksvater her mit dem Zeige- oder Drohfinger, und die ganze hohle Propaganda. Und darum wenig »Entartung« vom vorgeschriebenen ›guten‹ Wege möglich. Nun, ich werde noch einmal rübergehen.
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    Paris
    Ich will dieses verdammte Buch schreiben, aber ich habe immer noch keinen Marschbefehl, keine innere Karte, also keinen Faden, von Fabel ganz zu schweigen, ich habe nur mich und dieses Zimmer hier, und dieses Zimmer, dieser Warteraum, Kerker füllt sich mit lauter weitentlegenen Dingen, mit Leuten, die in einer anderen Welt oder tot, jedenfalls anderswo, wenn nicht gar verblichen sind und nicht in Paris, das Zimmer ist schon gerammelt voll von solchen Gestalten, Gelichter, der reinste Bahnhof, ich verliere mich in diese Störenfriede, die mich abhalten und mehr: entführen, aber nicht zu mir kommen lassen, wo bin ich denn eigentlich?
    Ich wollte in die Welt , darum bin ich in diese Weltstadt gezogen (verzogen), aber ich bin in dieser Zelle gelandet. Ich war manchmal so einsam, daß ich es gar nicht merkte, geradezu

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