Die Berufung
Allerdings hatten sie Liza in Grundzügen über den Prozess aufgeklärt - ein skrupelloses Unternehmen verseuche das Wasser, wodurch viele Menschen krank geworden seien. Sie hatte erwidert, sie möge dieses Unternehmen auch nicht. Und wenn die Familie in eine Wohnung ziehen müsse, um den Kampf mit diesem Gegner aufzunehmen, sei sie damit einverstanden.
Trotzdem war es eine traumatische Erfahrung gewesen, das schöne neue Eigenheim verlassen zu müssen. Dort hatte Liza ein rosa und weiß gestrichenes Zimmer gehabt und alles besessen, was sich ein Mädchen nur wünschen konnte. Jetzt musste sie sich ein kleineres Zimmer mit ihrem Bruder teilen, und obwohl sie sich nicht beklagte, war sie doch neugierig zu erfahren, wie lange dieser Zustand noch andauern würde. Mack war in der Regel zu sehr mit Gedanken an den Ganztagskindergarten beschäftigt, um sich über seine häusliche Unterbringung Gedanken zu machen.
Beide Kinder vermissten das alte Viertel, wo es hinter den großen Häusern Swimmingpools und Fitnessgeräte gab. Ihre Freunde wohnten nebenan oder um die Ecke. Sie gingen auf eine Privatschule, wo es keine Probleme gab. Auch die Kirche war an der nächsten Straßenecke, und sie kannten jeden, der sie besuchte. Jetzt mussten sie in eine öffentliche, städtische Schule, wo sehr viel mehr schwarze als weiße Gesichter zu sehen waren, und sie gingen in die Gottesdienste einer Episkopalkirche im Zentrum, wo jedermann willkommen war.
»So bald werden wir nicht umziehen«, sagte Mary Grace. »Aber vielleicht können wir uns ja schon mal nach einem neuen Haus umsehen.«
»Ich sterbe vor Hunger«, wiederholte Mack.
Das Thema neues Haus wurde gewohnheitsmäßig schnell umgangen, wenn eines der Kinder es ansprach, und auch jetzt stand Mary Grace auf, damit es nicht vertieft werden musste. »Komm, wir machen das Essen«, sagte sie zu Liza.
Wes griff nach der Fernbedienung und schaute Mack an. »Und wir gucken Sports-Center.« Alles, nur nicht die Nachrichten des Lokalsenders.
»Okay.«
Ramona hatte schon Wasser aufgesetzt und schnitt eine Tomate. Mary Grace umarmte sie flüchtig. »Hattet ihr einen angenehmen Tag?« Ja, antwortete Ramona. Keine Probleme in der Schule, Hausaufgaben bereits erledigt. Liza verschwand in ihrem Zimmer. Am Kochen zeigte sie bisher noch kein Interesse.
»War es ein guter Tag für Sie?«, fragte Ramona.
»Ja, ein sehr guter. Wir nehmen den weißen Cheddarkäse.« Sie fand ihn im Kühlschrank und begann, ihn zu reiben.
»Werden Sie jetzt Ruhe finden?«, fragte Ramona.
»Ja, zumindest für ein paar Tage.« Durch einen Freund, den sie regelmäßig in der Kirche trafen, waren sie auf Ramona gestoßen, die sich halb verhungert in einem Schlupfwinkel in Baton Rouge versteckt hatte, wo sie auf einem Feldbett schlief und sich von Lebensmitteln ernährte, die für Hurrikanopfer geschickt worden waren. Sie hatte eine zermürbende dreimonatige Reise hinter sich, die in Mittelamerika begonnen und sie durch Mexiko nach Texas und Louisiana geführt hatte, wo sich keine der Hoffnungen erfüllte, mit denen sie geködert worden war. Keine Arbeit, keine Gastfamilie, keine Papiere, niemand, der sich um sie kümmerte.
Unter normalen Umständen wären die Paytons nie auf die Idee gekommen, eine illegale Einwanderin als Kindermädchen zu beschäftigen, aber sie entschlossen sich schnell, sie bei sich aufzunehmen. Sie brachten ihr auf abgeschiedenen Straßen das Autofahren bei, dann die Geheimnisse des Mobiltelefons und des Computers, schließlich den Umgang mit den Küchengeräten und überzeugten sie von der Notwendigkeit, Englisch zu lernen. In ihrem Heimatland hatte sie eine gute katholische Schule besucht, und nun verbrachte sie die Tage in der Wohnung der Paytons, wo sie beim Putzen die Sätze der Leute im Fernsehen nachsprach. Nach acht Monaten hatte sie beeindruckende Fortschritte gemacht. Trotzdem zog sie es vor, anderen zuzuhören, besonders Mary Grace, die ihrerseits jemanden brauchte, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. An den wenigen Abenden während der letzten vier Monate, an denen Mary Grace selbst gekocht hatte, redete sie ohne Punkt und Komma, währen Ramona aufmerksam lauschte. Es war eine wundervolle Therapie, besonders nach einem harten Tag in einem Gerichtssaal voller nervöser und gereizter Männer.
»Keine Probleme mit dem Auto?«, fragte Mary Grace wie jeden Abend. Ihr Zweitwagen war ein alter Honda Accord, der noch keine Schramme oder Beule bekommen hatte, seit Ramona damit fuhr.
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